Scherben
blaue. Ich komme mir kleiner vor, ungeschützt und eingesperrt. Jedes Mal, wenn ein Auto vorbeifährt, pressen die Scheinwerfer das Muster der Spitzenvorhänge wie ein Netz an die Decke. Ich habe das Gefühl, dass mich die Möbel überwachen. Ich kann hier drin nicht schlafen.
Mir ist eingefallen, welcher Tag heute ist: der gefürchtete 15. September. Heute hätte ich mich bei der Garnison in Tuzla melden und Soldat werden sollen. Morgen werden zwei Militärpolizisten bei meinen Eltern vor der Tür stehen und mich suchen. Sie werden mich nicht finden. Mich nicht, Bruder. Mich nicht.
Zuerst war ich in einem Luftschutzraum, und Mustafa schrie mich mit seinem dunklen, aufgewühlten Gesicht zwischen den Rohrleitungen an, dann wachte ich in einem fremden Bett auf, und alle meine Zähne waren locker, und als ich sie berührte, fielen sie mir aus dem Mund, so wie faules Obstvom Baum fällt, und dann wachte ich wirklich in einem fremden Bett auf.
Ich lag da, ein fester Klumpen, starrte über den verschwommenen Abhang des Kissens in die Leere des Zimmers und fürchtete mich, meine Zähne mit der Zunge zu berühren, aus Angst, auf eine salzige, metallische Lücke zu stoßen. An der Decke hing eine Lampe, die wie ein Seestern aussah. Ich schloss die Augen und prüfte meine Zähne. Sie waren noch da.
Ich brauchte eine Weile, bis mir wieder einfiel, wer ich war, dann sah ich meine leblosen Klamotten auf dem Teppich liegen. Als wäre jemand von Außerirdischen auf ein Raumschiff gebeamt worden, während er gerade Sit-ups machte. Ich schloss die Augen wieder.
Ich stellte mir vor, ich sei bereits in Kalifornien, würde Shorts und ein gelbes Basketball-Trikot tragen und mit einem klapprigen Spritfresser mit Sonnenverdeck und bosnischer Flagge am Rückspiegel durch die Gegend cruisen; mein Bizeps wäre größer und fleischiger, mein langes Haar wäre zu einem sonnengebleichten Pferdeschwanz gebunden, mein Kopf würde zur Musik aus dem Radio oder den Ramones nicken. Dann klingelte Minas Telefon im Flur, und meine flüchtige Fantasie verpuffte. Mein altes Leben nahm mich in Beschlag, und ich gab mich ihm hin wie ein Junkie, als bräuchte ich es, als könnte ich ohne nicht leben.
Hinter der Tür hörte man das Murmeln des Telefongesprächs, ein paar kehlige Laute, verschlafene Morgengrüße zwischen Mina und Ana, dann war es wieder still, und ich war dankbar dafür. Ich vergrub mich im Kissen wie ein Fötus, versuchte, es mir unter der Decke behaglich zu machen, spannte sie mir fest über den Rücken, eine Erinnerung an das Gefühl, dass sich jemand von hinten an mich schmiegt, und starrte das Foto an, das Allison mit ihrem letzten Brief geschickt hatte.
Am Ende des Briefs stand ein einziger besorgniserregender Satz. Er lautete: »Nur, falls du dich fragst, William und ich sind Geschichte.« Er machte mich wahnsinnig. In meiner Vorstellung sah ich ihnen beim Knutschen zu, immer wieder, seine Hand fuhr gierig unter ihr T-Shirt, sie schnappte nach Luft, schielte fast vor Ekstase. Ich drehte und wälzte mich, schloss die Augen ganz fest und öffnete sie wieder, schüttelte den Kopf, versuchte die Bilder zu zerschlagen, und dann klopfte Mina an die Tür, ein höchst außergewöhnliches Ereignis.
»Hey, Hawkeye«, befahl sie. »Wach auf!«
Ich sprang hoch wie ein Gummiball.
Seitdem ich ihr Geld gegeben hatte (damit sie endlich die Klappe wegen der verfluchten Stereoanlage hielt) und sie anschließend ein paarmal über mich lachen musste, nannte sie mich beharrlich Hawkeye, nach ihrer Lieblingsfigur aus M.A.S.H.
»Eine Sekunde«, schrie ich und schüttelte die Schlafanzughose ab, die um meine Knöchel hing und mich stolpern ließ. Meine Stimme war zu krächzend, zu überrascht, und ich wusste, dass sie dachte, sie habe mich beim Wichsen erwischt. Ich zuckte zusammen bei der Vorstellung daran, was sie sich wohl vorstellte, was ich mir vorgestellt hatte. Als ich herauskam, war der Esstisch für drei gedeckt, Mina kam aus der Küche und ließ einen hölzernen Untersetzer in die Mitte des Tisches fallen.
»Beeil dich und putz dir die Zähne«, sagte sie. »Ich habe Frühstück für uns alle gemacht.«
» Uljevak «, setzte sie hinzu, bevor sie in die Küche zurückging.
»Was ist denn in die gefahren?«, flüsterte ich Ana zu, als sie aus dem Bad kam. Sie zuckte mit den Schultern und kicherte. Ich ging mir die Zähne putzen.
Mein Double musterte mich mit Abscheu, fuhr sich mitder Handfläche über die ungleichmäßigen Stoppeln,
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