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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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seine zugeschnürte Kehle noch hervor, dann umarmt er dich wieder. Klemmt dir die Gurgel ab, schiebt dich Richtung Haus. »Keine Widerrede. Nicht mal im Ansatz.«
    »Ich muss …«
    »Mein Papa würde dich furchtbar gerne kennenlernen«, sagt er und führt dich an einer Reihe farblichgekennzeichneter Mülltonnen vorbei. »Er hat es sich nie verziehen, dass er nicht zurückgegangen ist und gekämpft hat, als ihr ihn am dringendsten brauchtet.«
    Der Großteil des Hofs wird von einem langen weißen Zelt eingenommen. Darunter sitzen vierzig oder fünfzig Menschen dicht gedrängt um einen langen Tisch, fächeln sich mit Papptellern Luft zu, kippen Biere, schreien, lachen, stehen auf, um kurze Reden zu halten. Kleine Kinder rennen mit auf Stöcke gespießten Marshmallows ins Haus und wieder raus. Ihre Mütter rennen hinterher, rufen ihnen nach, sie sollen nicht rennen. Sie schreien auf Bosnisch, und die Kinder antworten in weinerlichem Englisch, beklagen sich darüber, dass die Mutter von soundso dieses oder jenes erlaubt hat, da, siehst du? Im hinteren Teil des Gartens ist ein nierenförmiges Loch, die Anfänge eines Pools, darin steht ein haariger Mann, der sich ein T-Shirt um den Kopf gebunden hat, er grillt ein Schwein am Spieß. Irgendwas ist hier faul.
    »Hier«, sagt der Mann im Unterhemd und reicht dir ein Beck’s. »Wir suchen dir einen Platz am Tisch.«
    Du folgst ihm, und jetzt fällt der Groschen. Neben dem Zelt ist eine Flagge aufgepflanzt; sie ist dreifarbig und hat ein gelbes Symbol in der Mitte, bestehend aus dem Kreuz der orthodoxen Christen und einem kyrillischen S in jedem der Quadranten. Die Buchstaben stehen für Samo sloga Srbina spašava , das Motto deines Feindes in dem Krieg, in dem du gekämpft und den du überlebt hast. Nur Eintracht errettet den Serben .
    Du suchst nach dem einfachsten Fluchtweg. Durchs Haus? Quer durch den Pool, da hinten rauf auf die Bank und über die Mauer in den Nachbargarten? Auf keinen Fall der Weg, den du gekommen bist, da stehen zu viele Leute rum. Du könntest dich prügeln, weil dues vorher hättest merken müssen: drei Küsse für die heilige Dreieinigkeit, von dem Schwein im Pool mal ganz zu schweigen. Scheiße. Du weichst schüchtern Richtung Haus aus.
    Der Mann im Unterhemd steht jetzt am Kopfende des Tisches, beugt sich vor und spricht mit jemandem, der dort sitzt, dessen Gesicht du aber nicht sehen kannst, weil dir eine riesige blonde Mähne die Sicht versperrt, so was wie ein Clown-Afro. Du siehst den Mann erst, als er aufsteht, wacklig auf den Beinen, besoffen, ein leidenschaftlicher Patriarch in der kriegerischen Aufmachung eines Tschetniks, šajkača, kokarda , schmieriger grauer Bart bis zum Bauchnabel. Ein Pistolenknauf ragt aus seiner Hose.
    »Wo ist dieser Soldat?«, schreit er und sieht sich um, während sich sein Sohn bemüht, ihn zu stützen. Sein Serbisch ist ungleichmäßig, ländlich, mit bosnischer Satzmelodie – ein bosnischer Serbe, ein Möchtegern-Serbe. Es sind nur noch zwei Meter bis zur Hintertür, als eure Blicke sich begegnen. Der Mann lächelt und winkt dich zu sich.
    Jetzt loszurennen wäre nicht gut. Eine ruhige Stimme in deinem Innern sagt, tu, was man dir sagt. Du erhebst deine Flasche auf den Mann und nimmst einen ordentlichen Schluck, um Zeit zu gewinnen, dann schlenderst du rüber. Ein paar Leute am Tisch klopfen dir auf die Schulter. Diejenigen, die nicht an dich rankommen, heben dir zu Ehren ihre Gläser, widmen sich anschließend wieder ihren Gesprächen.
    »Platz für den Kriegshelden«, faucht der Patriarch die Clownfro-Lady an, die das Gesicht voller Reste von russischen Eiern hat.
    »Ich bin sowieso fertig«, platzt sie heraus, Eierstückchen spritzen ihr aus dem Mund. Sie steht auf, derMann im Unterhemd und sein Vater führen dich an ihren Platz. Aus der Nähe kannst du sehen, dass der alte Mann eine aufwändige Tätowierung auf dem schrumpeligen Unterarm hat, ein schwarzes Schild mit einer roten und einer blauen Kante. In der Mitte ein doppelköpfiger Adler mit zwei gekreuzten gelben Schwertern unter einem Totenkopf. Darüber und darunter kyrillische Buchstaben. FÜR KÖNIG UND VATERLAND. FREIHEIT ODER TOD.
    1993 kroch deine Einheit durch ein matschiges Minenfeld, um in Vorbereitung einer Offensive am darauffolgenden frühen Morgen ein Maschinengewehrnest auszuheben. Kralle, der Anführer und ein wahrhaftiger Irrer, sprang ohne Stiefel in das Nest und erstach den letzten Tschetnik von hinten. Er kam mit einem Souvenir

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