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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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Allerdings nicht viel. Ich sagte ihr, wo ich war, dass ich wirklich rausgekommen sei. Sie klang wütend und abweisend. Sie konnte nicht richtig sprechen. Ich sagte ihr, dass ich sie liebte. Sie sagte, sie müsse jetzt auflegen.
Wie groß sind die Eier des Präsidenten? / Bosnisch sprechen in Frankreich / Die Geschichte von Super Marios Schnurrbart
    Tagelang mit dem Bus quer durch Europa zu fahren, gefesselt an unsere Sitze, lehrte uns, wie langweilig die Freiheit war. Wir schauten auf öde Autobahnen, sahen Städte nur aus der Ferne, hielten an Raststätten und Tankstellen, öffentlichen Toiletten und Supermärkten. Da alles Mitgebrachte inzwischen aufgebraucht war, schlugen wir uns die Bäuche mit abgepackten Sandwiches, Erdnussflips und Schokolade voll, tranken Limonade und Mineralwasser und Saft aus Tetrapaks, rauchten weltberühmte Zigarettenmarken. Unsere Mägen waren das alles nicht gewohnt, und so kotzten wir in schwarze Plastiktüten und hinterließen überall unseren Dünnschiss.
    In den Alpen fuhren wir einmal durch einen langen Tunnel. Ein anderes Mal machte der Präsident mitten in der Nacht eine Riesenszene und verlangte, sofort aussteigen zu dürfen. Er schrie, er habe es satt, wie ein Kind behandelt zu werden. Er betätigte den Notfallhebel an der Tür, stand in der Zugluft und drohte damit, hinaus in die Nacht zu springen. Seine rote Krawatte flatterte und schlug ihm ins Gesicht. Als der Fahrer an einer Tankstelle hielt, stieg der Präsident aus, torkelte betrunken ungefähr zweihundert Meter weiter, ließ sich auf den Bordstein sacken und vergrub den Kopf in den Händen. Die Mitglieder seiner Kompanie gingen zu ihm,versuchten ihn umzustimmen, doch er brüllte, er müsse das tun, um bestimmten Leuten (Branka) zu zeigen, wer hier das Sagen habe, und dass ohne ihn niemand irgendwohin fahren würde. Nicht mal seine Sekretärin kam jetzt mehr an ihn heran. Ich schlief ein und wachte während des ganzen Theaters zweimal auf. Zum Schluss erklärte ihm Branka, wir würden ohne ihn weiterfahren.
    »Dazu fehlt euch der Mumm«, schrie er und kotzte aufs Pflaster.
    Branka stieg in den Bus und sagte dem Fahrer, er solle losfahren.
    »Er ist ein Idiot, aber wir können ihn nicht einfach hierlassen«, erwiderte der Fahrer.
    »Machen Sie mal. Wir werden ja sehen, ob er Mumm hat.«
    Wir rollten an ihm vorbei, aber er blieb sitzen und zeigte uns den Stinkefinger. Der Fahrer schaltete ein paar Gänge rauf, und wir rauschten davon. Nach der ersten Kurve fuhren wir rechts ran und warteten. Es dauerte keine Minute, bis er auf dem Seitenstreifen angerannt kam, hinfiel, sich wieder aufrappelte. Ich dachte, ich würde lachen müssen, aber der Anblick war traurig. Als er uns eingeholt hatte und einstieg, hatte er eine riesige Beule. Ein kleines Rinnsal Blut lief ihm über die Stirn und wurde von seiner Augenbraue aufgefangen. Schweigend ging er an seinen Platz, und lange redete niemand mit ihm.
    Irgendwo in der Nähe von Paris winkte uns ein Gendarm wegen des kaputten Seitenspiegels raus und geleitete uns zu einer Werkstatt, wo wir zwei Stunden warten mussten, bis eine Mechanikerin einen neuen gefunden und angebracht hatte. Niemand von uns sprach auch nur ein Wort Französisch. Omar, Ramona und ich setzten uns von der Gruppe ab und gingen in den Ort hinein. Wir tranken Ramonas Sliwowitz, setzten uns auf ein Stück Gras im Schatten einer Bäckerei, bedachten die französischen Passanten mit denblumigsten Beleidigungen, die uns einfielen, und amüsierten uns darüber, dass sie nichts davon verstanden. Wie Bauern saßen wir dort und glaubten, das stünde uns zu.
    Später, im Bus, erzählte uns jemand von Super Mario. Anscheinend trug er den Schnurrbart seit seinem sechzehnten Lebensjahr und hatte sich geschworen, ihn niemals abzurasieren. Irgendwann vor dem Krieg kam ein berühmter Gastregisseur aus Zagreb ans Nationaltheater und gab Super Mario eine Rolle in seiner Produktion, einer Tragödie von García Lorca. Bei der ersten Probe bat er Super Mario, sich zu rasieren, damit er eine Vorstellung davon bekäme, wie er ohne den Schnurrbart aussähe und eine Entscheidung bezüglich des Äußeren der Figur treffen könne. Als ihm Super Mario von seinem Schwur erzählte und wie viel ihm seine Gesichtsbehaarung bedeutete, bestand der Regisseur erst recht darauf. Wo läge das Problem? Er sei doch schließlich Schauspieler! Wollte er die Rolle haben oder nicht? Super Mario ging in sich, und zur nächsten Probe erschien er glatt wie ein

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