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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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gestohlen zu haben, dann Omar und mich, dann alle anderen im Bus. Der Präsident brüllte ihn an, er solle sich beruhigen, wir würden der Sache auf den Grund gehen, doch keine zehn Minuten später waren wir am Ziel, stiegen aus, schüttelten Hände, wurden willkommen geheißen und fotografiert, und unser Verbrechen blieb ungesühnt.

Auszüge aus Ismet Prcićs Tagebuch
April 2000
    Ich vermisse sie, mati. Ich vermisse sie so sehr. Ich kann es kaum abwarten, von der Uni in San Diego zu hören. Sie müssen mich nehmen. Sie müssen.
    Wenn sie in San Diego ist, verbringe ich viel Zeit bei Eric, gucke Twin Peaks mit ihm. Er ist verheiratet, und unser altes Zuhause sieht jetzt anders aus. Unsere Sachen sind irgendwo eingelagert. Sie haben neue Sachen, neue blaue Sofas, einen neuen Fernseher, eine neue Anlage, neues, gesünderes Müsli. Ich kann es nicht erwarten, all das mit Melissa zu haben.
    Ich finde andauernd was in meinen Taschen, an das ich mich nicht erinnere. Ich sollte nicht so viel trinken, das steht verdammt noch mal fest. Ich gehe zu Partys im Valley und wache bei irgendwelchen Leuten auf, gucke mir die Fotos an den Wänden an und flippe aus, weil ich keins der Gesichter darauf erkenne. Ich schleiche mich raus und renne wie Irrer. Auf meinem Dachboden durchforste ich die Klamotten, die ich am Abend getragen habe, und finde Pillen, Notizen von Fremden, Schlüssel, die keine mir bekannte Tür öffnen.
    Mustafa wird zum Problem für mich.

(… allison …)
    Unser Theater, Venue 25, befand sich in der Albany Street, ein altes graues Gebäude, dessen Sanitärleitungen außen installiert waren, schwarze Rohre, die die Fassade willkürlich in geradschenkelige geometrische Figuren unterteilten. Von den Rohren hingen bunte Transparente, die für das Festival und die Stücke warben. Die Tapete am Eingang war eine Collage aus Plakaten und Zeitungsausschnitten. Im Haus roch es ein bisschen nach Keller und altem Klebstoff. Es gab ein Obergeschoss und ein Untergeschoss, verbunden durch eine schmale Treppe. Ein kräftiges, pickliges Mädchen in einem übergroßen Festival-T-Shirt führte uns nach oben in die Cafeteria. Auf ihrem Namensschild stand Lucy . Sie zersägte die Luft mit den Armen und rollte ihre Rs genauso wie wir Bosnier, und es fühlte sich ein bisschen an wie zu Hause. Ich wollte sie mit ihrem Busen und ihrem Lächeln einfach nur drücken.
    »Wir haben eine Überraschung für euch«, sagte sie.
    Der Durchgang zur Cafeteria war schmal, und wir mussten mit unserem Gepäck einer nach dem anderen gehen, damit wir nicht stecken blieben. Ich betrat den Raum hinter Omar, und da saß Asmir in seiner schwarzen Jeans und einem schwarzen Blazer vom Schwarzmarkt in Tuzla. Er stand grinsend auf einem Stuhl, die Arme ausgebreitet wie Möwenflügel. Die Jüngeren aus der Truppe rannten schreiend auf ihn zu. Er stieg vom Stuhl und umarmte sie alle, wuschelte ihnen durch die Haare, und das Ganze hatte etwas seltsamInszeniertes, wie Dokumentarfilmaufnahmen von kommunistischen Diktatoren, die an Nationalfeiertagen Schulkinder begrüßen.
    »Wie hast du’s denn geschafft, vor uns hier zu sein?«, fragte ich, als wir uns umarmten.
    »Was machen Möwen?«
    »Fliegen?«
    »Bitte, da hast du’s.«
    »Wo ist Bokal?«, fragte Boro, und ich kam mir so blöd vor, weil ein Zehnjähriger vor mir auf das Wesentliche zu sprechen kam. Asmirs Grinsen stockte, und seine Augenbrauen fuhren einträchtig mit seinen Schultern nach oben.
    »Er ist am Morgen nach eurer Abreise mit dem Bus nach Split gefahren. Ich hab ihm gesagt, dass er mit mir kommen soll, aber er meinte, er habe geträumt, dass er in den Bus nach Split steigen soll. Ich nehme an, er ist unterwegs, es sei denn …«
    Asmir und Branka einigten sich über die Unterbringung. Es standen zwei Häuser zur Verfügung, und Asmir schlug vor, die über Achtzehnjährigen sollten in einem der Häuser wohnen, Branka mit den Kleinen in dem anderen. Er hatte recht, und Branka hasste es, dass er recht hatte, das sah man ihr an. Sie blätterte mit großer Geste ein paar Unterlagen durch und ließ die Bombe platzen, dass »wir« am nächsten Morgen mit der Theatergruppe einer örtlichen Highschool ein von Schülern geschriebenes Stück einstudieren und in der letzten Festivalwoche gemeinsam aufführen sollten. Asmir lachte und sagte, dass wir nicht hergekommen seien, um anderer Leute Stücke zu spielen, sondern unsere eigenen, dass er nichts davon wisse und dass das gar nicht in Frage käme. Branka

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