Scherbengericht: Roman (German Edition)
denn sie hatten bereits in das Lied eingestimmt:
I believe in angels
when I know the time is
right for me
I’ll cross the stream
I have a dream …
Als sie in die Nussbaumallee einfuhren und auf die Hofgebäude zustrebten, fügte er, mehr für sich, hinzu: »Es ist eines unserer Lieblingslieder gewesen, Sie können sich nicht vorstellen, wie Odins Ohrenspiel jedem Ton gefolgt ist.« Er hielt inne. »Odin, jawohl, Odin!«, triumphierte er. Soeben war ihm der Name des Heißgeliebten zugeflogen! Die Welt war wieder in Ordnung. Die unverhoffte Rückkehr des geliebten Namens überwältigte ihn, sie schwappte wie eine warme Welle durch seinen ganzen Körper. »Unser Odin ist wieder da!«, frohlockte er zum Dackel hin und drückte ihn an sich. Befreit, glücklich lehnte er sich zurück und stimmte, zu Tränen ergriffen und so lautstark er es eben noch schaffte, mit ein in den Gesang von Dr. Holberg und seinem Fräulein Tochter:
I have a dream
a fantasy
to help me trough
reality …
Lauthals singend und von den gewaltigen Musikwogen der Stereoanlage mitgetragen, erreichten sie, aus dem Schatten der Allee hinausfahrend, den sonnenüberfluteten Hofplatz. Er entdeckte Rotrauds vorgebeugte, Ausschau haltende Gestalt an die Haustür gelehnt. Und als Rotraud Lagler offenbar den Sohn Clementines erkannte, der als Erster, musikumflutet, ausgestiegen war, kam sie ihnen lachend, und sofort den Rhythmus übernehmend, mit wiegenden Hüften durch den Vorgarten entgegengetanzt.
»Hereinspaziert, hereinspaziert, meine Lieben!«, unterbrach sie ihr Gelächter und richtete sich wohl hauptsächlich an ihn. Dabei schwenkte sie die mit beiden Händen zerknüllte Schürze derart, als wollte sie das jubilierende Terzett und das Schlappohr in ihren Schoß hineinwinken.
12
CLEMENTINE UND DIE ANDEREN
Das beschwingte Trio folgte der Gastgeberin über einen Kiesweg in den Garten. Der Duft von blühenden Lavendelbüschen empfing sie und begleitete sie ein Stück. Links sank das Gelände zum Tal hinab; dort unten lag Quemquemtréu. Auf der gegenüberliegenden Talseite stiegen die Buchenwälder bis zu Almböden hinauf, bald begannen Geröllfelder, steile Felsrücken und Firnsättel. Sie sahen den Grillplatz, hufeisenförmig umschlossen von Feldsteinen; an seiner offenen Seite ein Eisenkreuz, und daran, rumpfabwärts befestigt, das kopflose Lamm. Rauchschleier und Hitzewellen schwebten über der Stätte, Bratengeruch wehte ihnen entgegen. Der Hausherr stand mit dem Rücken zu ihnen und war eben voll damit beschäftigt, mit einer Schaufel die Glut vor dem Kreuz umzuverteilen.
Rechter Hand erwartete sie der Lindenbaum. Man konnte ihn von hier in seiner ganzen Majestät bewundern. Die ausladende Krone bildete eine ebenmäßige Kuppel, deren Rand rundum bis zu Kopfhöhe herabreichte. Im Laubwerk schimmerten gelbe Blütenkaskaden. Ihr Aroma übertraf alle anderen Wohlgerüche, Lamm und Lavendel und auch den Rosenduft – denn hohe Büsche voll weißer und roter Rosen wuchsen an den nordwestlichen, der Sonne zugewandten Hauswänden empor. Nicht weit hinter dem Lindenbaum begannen schon die Felder und Wiesen; dann folgte Fichten- und Zypressenwald, der sich bis an die grauen Gesteinsmassen der Schluchten und Steilwände des Piltriquitrón hinaufzog. Alles lag im Glast des Mittagslichts.
Als die Neuankommenden den Kiesweg verlassen hatten und sich über frisch gemähtem Rasen dem Dunkel unter der Baumkrone näherten, verkündete Rotraud frohlockend: »Schau, Clementine, wen ich dir da bringe!«
Es war ein sonores und balsamisches Schattenreich, das sie nun betraten. Insektenschwärme umtanzten die Blütentrauben, wühlten sich hinein, arbeiteten sich mühsam wieder heraus, um schwer beladen abzuheben, sich davonzumachen, wiederzukehren: Ein reges Treiben des Hin- und Hereilens, das sich nicht stören ließ vom Gezeter und Geschwirr gierig dreinpickender Vögel. Ein langer Tisch, bedeckt mit einem weißen Tuch, stand unter dem Baum. An seiner Mitte thronte Clementine Holberg; zu ihrer Rechten, am Kopfende, saß Dr. Elias Königsberg.
Eben noch waren die beiden in ein Gespräch über Musik vertieft gewesen. Clementine hatte gemeint, wenn sie die Augen schließe, benommen von diesem Gesumme und Gezwitscher, sei es ihr, als säße sie im vollen Saal der Volksoper, in Erwartung des Kapellmeisters, und kurze Probeläufe der einzelnen Instrumente, ja manchmal schon Zitate aus der bevorstehenden Lustigen Witwe flatterten aus dem Orchestergraben zu ihr
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