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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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auf eine der Querbänke gesetzt, während Katha am Boden kauerte, mit dem Rücken an der Bordwand.
    »Wir werden noch ein paar Wale antreffen, das ist jedoch selten um diese Jahreszeit.« Der Walexperte begann im leiernden Tonfall des Fremdenführers zu reden. »Es sind südliche Glattwale. Für sie ist der Golfo Nuevo Liebesbett und Kindergarten zugleich. Einstmals waren diese Tiere die begehrtesten Opfer der Walfänger, weil sie von allen ihren Artgenossen die dickste Fettschicht unter der Haut tragen. Eine leichte Beute, bis zu fünfzehn Meter lang, dreißig Tonnen schwer und eine große Menge Tran versprechend. Die erbarmungslose Jagd auf sie endete erst, als sie fast ausgestorben waren. Dann setzte die Arbeit der Internationalen Walfangkommission ein, galt das internationale Fangverbot, und nachdem man vor zwei Jahrzehnten kaum noch tausend Tiere zählte, ist man heute wieder bei etwa sechstausend angelangt.« Roberto machte eine kleine Pause, und über dem Goldrahmen der Sonnenbrille legte sich die Stirn bis zur Mütze hinauf in tiefe Sorgenfalten. Der Mensch sei dennoch wieder zu ihrem Feind geworden, erfuhren sie. Denn er fische den Walen ihr Futter weg und verschmutze die Küstengewässer. Es komme zur Verbreitung giftiger Algen, und man habe verblutende Jungtiere am Strand gefunden. Er ließ dieses düstere Bild auf seine Fahrgäste einwirken.
    »Nein, wie entsetzlich!«, rief Katha aus, doch dann folgte der verbindlichere Schluss seines Vortrags für die whale watchers: »Einen Moby Dick kann ich Ihnen freilich nicht bieten. Zum Glück für uns alle! Aber wir haben vielleicht noch die Aussicht, auf unseren sanften Albino Espuma zu treffen; man hat noch nie ein Weibchen in seiner Begleitung gesehen. Nebenbei – die Männchen dieser Gattung haben die größten Hoden aller Lebewesen, sie können bis zu achtzig Kilo wiegen. Die Japaner sind ganz wild darauf, sie durchbrechen ständig die internationalen …«
    »Jeder Hoden einzeln oder beide zusammen?«, unterbrach ihn Katha. Roberto stockte, er schien es nicht genau zu wissen. »Beide zusammen«, wagte er unsicher zu antworten und blickte fragend zu Tito hinüber. Doch der zog nur den nackten Kopf in den Kragen seiner Schwimmweste. »Was müssen die erst für einen Riesenschwanz haben«, mutmaßte Katha beeindruckt.
    Roberto wandte sich verlegen wieder dem Meer zu. Katha sah die Wolken immer schneller und dichter aufsteigen und über sie hinwegziehen; der Wind hatte ihr Gesicht und die Kappe bereits getrocknet; sie saugte an einer salzigen Haarsträhne. Wenn nur der Vater sie nicht schon wieder mit solcher Sorge anblicken würde!
    »Okay, Che, okay … Starr mich doch nicht so an!«
    Martin versuchte, sie und die anderen abzulenken. Er deutete zu der schiefergrauen Steilküste hinüber, von der sie sich zunehmend entfernten.
    »Dort haben wir in meiner Studentenzeit gezeltet. Auf den Spuren von Darwin und seinen Fossilien. Wir wurden auch selbst fündig. Die große versteinerte Muschel auf meinem Schreibtisch, Katha, die habe ich hier ausgebuddelt … ja, vor vierzig Jahren. Wir sind damals mit einem Fischkutter von Bahía Blanca gekommen.«
    Wie der kleine, süße Waliser vom Che begeistert ist. »Ganz richtig, Dr. Holberg«, rief er, »ich behaupte ja immer, dieser Landstrich ist das patagonische Galiläa, aber kein neuer Gott, eine neue Idee wurde hier geboren. Der alte Mensch und sein Gott haben ihre zentrale Stellung im Universum verloren, Schluss mit der biblischen Herrschaft über alle Kreaturen, von da an hieß es, sich bescheiden eingliedern in die lange Kette der Evolution. Die Beagle unter britischer Fahne brachte den jungen Darwin an diesen nackten, menschenleeren, nichtssagenden Küstenstreifen; aber er wusste ihn zu entziffern. Hier überkam ihn der Geist des Testaments der Neuzeit.«
    »Wahnsinn«, bemerkte Katha, »und das im Zeichen der britischen Krone. Und so wurden die Gorillas zu unseren fernen Verwandten, und alle Tiere wurden Brüder …« Sie fixierte Tito bei ihren folgenden Worten: »Ich liebe die Gorillas.« Doch der vermied den Blickkontakt. Ob er gar schwul war? Und dem Tierliebhaber Roberto hörig?
    Roberto aber griff ihre Einfälle auf. »Dass uns unsere moderne Wissenschaft nur nicht wieder größenwahnsinnig wie die Menschheit der Bibelepoche macht. Wir sollten voll Bescheidenheit heute Nacht in das dritte Millennium eintreten.«
    Er hatte die letzten Worte der offenen Wasserfläche zugewandt gesprochen. Jetzt gab er Tito

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