Scherbengericht: Roman (German Edition)
ihn zu. Der alt gewordene Heiland Che, was starrt er mich immer so besorgt an? Das war das Unerträgliche an ihm, das konnte schon nach wenigen Momenten ihr Zusammensein oder ein Gespräch zerstören: dieser prüfende, sorgenvolle Blick. Warum nur? Schließlich war sie entlassen worden, war doch wohl gesund und hatte den Fremdenführer liebenswürdig begrüßt.
Katha wollte nicht frühstücken, nicht unter Folterern, und trank nur einen Orangensaft. Vor dem Spiegel auf der Toilette cremte sie sich ein: die empfindliche, sommersprossige Haut des Gesichts und der Arme mit Sonnenschutzfaktor sechzig. Wegen dieser Empfindlichkeit trug sie auch keine Shorts, sondern eine lange weiße Leinenhose, oben eng anliegend geschneidert. Nochmals übte sie beide Kopfgebärden – um Sympathie heischend, mit Kampfesmut drohend – und drückte die Kappe fester aufs Haupt. Sie zupfte an ihrem T-Shirt. Man kann sehen, dass ich keinen Büstenhalter trage. Ich habe noch nie einen getragen. Welch ein süßer, kleiner Kerl, dieser Roberto Williams. Heute ist sein Glückstag, heute darf er seinen Zirkus einer Prinzessin vorführen.
»Wir sollten uns beeilen«, mahnte Roberto. »Der Wind droht stärker zu werden, und dann könnten wir nicht mehr weit genug hinausfahren.«
»Wo sind die Wale?«, fragte Katha.
»Man hört sie in der Ferne. Haben Sie da draußen noch nicht die Fontänen gesehen, ein stöhnendes Brausen gehört?«
Sie kletterten in Robertos Motorboot. Es war ein offenes Fahrzeug ohne Kajütenaufbau, mit einem schweren Außenbordmotor und festgezurrt auf einem zweirädrigen Wagen, den jetzt ein Traktor so weit ins Wasser schob, bis es frei auf den Wellen schaukelte. Sie hatten sich in die orangefarbenen Schwimmwesten hineingearbeitet; Roberto musste die seine angesichts der überfüllten Wamstaschen geöffnet lassen. Er hielt das Boot mit einem Ruder in Ufernähe. Der Traktor zog den leeren Wagen auf den Strand zurück, sein Fahrer sprang herunter, kam herangewatet und schwang sich zu ihnen ins Boot. Katha empfand, dass der junge Kerl nichts Verdächtiges an sich hatte; nichts schien ihn mit den Leuten im Hotel zu verbinden. Im Gegenteil, seine braunen, muskulösen Arme, die aus der stramm sitzenden Schwimmweste geradezu hervorquollen, beruhigten Katha. Der Nacken, breiter als der schmale, glatt rasierte Kopf, verriet den guten Schwimmer. Diese Proportionen wurden durch ein dünnes, golden glitzerndes Halskettchen noch hervorgehoben. Katha fielen die nackten Füße des Kerls auf: gebräunt, mit kleinen, kindlich anmutenden Fersen, mit schön gegliederten, auseinanderstehenden Zehen und geradezu weibisch gepflegten, rund gekappten glänzenden Nägeln. Wer auf solchen an Hände gemahnenden Füßen daherkommt, wandelt schon an der Grenze zwischen Adonis und Gorilla. Auf den Handrücken hingegen, die jetzt kraftvoll über dem Steuerruder lagen, hoben sich die Adern ab – ein weiteres Zeichen für die Spannung zwischen Feinnervigkeit und Brutalität dieses tollen Motormannes. Sie stand hinter ihm, Schwimmweste an Schwimmweste. Er startete und sofort verband sich das Aufheulen des Motors mit einem spritzenden, springenden Dahinjagen über die Meeresfläche. Stärker noch als vom flitzenden Boot fühlte sich Katha von diesem hochgradig ästhetischen Mann ins Meer hinausgetragen, ja entführt. Da riss ihr ein heftiger Windstoß die Kappe vom Kopf und drückte ihr das Haar ins Gesicht, sodass sie nichts sehen konnte und sich erschrocken an den Bootsmann klammern musste. Sie sog seinen Schweiß- und Meerwassergeruch ein. Tito wendete blitzschnell, fixierte den weißen Fleck auf den Wellen. Katha konnte sich das Haar aus dem Gesicht streichen, aber bevor sie sich von ihm löste, trieb es sie dazu, ihn spielerisch in den Nacken zu beißen und die salzig schmeckende Stelle abzulecken. Die Haut war borstig, wie am Vortag rasiert. Tito zuckte unter dem Biss und der Berührung der warmen Zunge zusammen. Er beugte sich über Bord und fing affenhaft geschwind die Kappe von einem Wellenkamm. Katha setzte sie sofort wieder auf, genoss das herabtriefende Salzwasser und dankte Tito, indem sie ihm mit zarter Hand huldvoll über den nackten Schädel strich.
Roberto, breitbeinig am Bug aufgepflanzt, prüfte den Himmel mit seinen heraufziehenden Wolken und das blasser und bewegter werdende Meer. Hierzu setzte er mehrmals das Fernglas an, hob die Hand und wies Tito die Richtung. Dann wandte er sich wieder seinen Fahrgästen zu. Martin hatte sich
Weitere Kostenlose Bücher