Scherbengericht: Roman (German Edition)
und seinen Blitz herabschleudert.
Ich umarme Dich – ja wie wunderbar wäre es, wenn wir’s jetzt wirklich könnten, so, wie Du mich zu Hause in Deutschkreutz bei diesen schrecklichen, nächtlichen Sommergewittern immer umarmt hast … Servus!
Deine kleine Angstsuse
Gretl«
Send . Obwohl sich überhaupt nichts verändert hatte, fühlte Gretl doch: Das lange Schreiben hatte ihr etwas Erleichterung verschafft.
Nun wartete sie auf Elis Rückkehr, aber der schien sie vergessen zu haben. Sie sah ihn, nachdem er wohl mit Clementine gesprochen hatte, neben Treugott vor dem aufgespannten Lamm stehen und lange auf ihn einreden. Etwas vom Grillduft drang trotz des geschlossenen Fensters ins Zimmer herein. Treugott war offensichtlich noch immer aufgeregt; er ruderte mit den Armen und sein Mund stand weit offen. Dann schien es ihr, als wischte er Tränen – oder Schweiß? – mit beiden Handrücken aus den Augen und von den Wangen. Verwundert beobachtete sie, wie Eli, der so eifrig auf ihn eingeredet hatte, sich nun mit seinen nackten Füßen auf Zehenspitzen aus den Mokassins stemmte, einen Arm um Treugotts Nacken legte, ihn zu sich herunterzog und sich seinem Gesicht – sie konnte nur den weißen Schopf sehen – wie zu einem Zuflüstern oder Wangenkuss näherte.
Während sie die beiden bei ihrem seltsamen Tun beobachtete, empfand Gretl, dass es ihr eigentlich ganz recht war, wenn Eli jetzt nicht zurückkam. Wie würde er das, was sie Ilse geschrieben hatte, aufnehmen? Dieser von ihr vermutete, wie vom Schicksal gestrickte Plot war wirklich etwas grob – gehörte zu einem Fernsehthriller, oder in einen dieser modernen, in unruhigen Wortschwallen sich ergießenden Schauerromane. Schon deshalb würde er gleich gestichelt haben. Etwa, ja, ja, wie Der Tod und das Mädchen . Sie hatten das Stück des Chilenen Ariel Dorfman vor einigen Jahren in Buenos Aires gesehen. Eli hatte den unglaubwürdigen Zufall und das Klischee vom faschistischen Musik-Ästheten bemängelt. Als eine »billige Kolportage des alten Tragödien- ABC s« hatte er den Inhalt bezeichnet: Der Ehemann einer Frau, die ein Folteropfer der Pinochet-Diktatur war, hat Jahre später eine Autopanne und bringt den Mann, der ihm auf der Landstraße geholfen hat, zu einem Drink nach Hause mit. Die Frau erkennt an der Stimme ihren einstigen Peiniger. Aus dem Erkennungsmoment heraus entwickelt sich das Drama – mit viel herzbewegender Schubertmusik, die den Gefangenen einst während der Folter vorgespielt wurde … Na ja, so stellte sich das der Mensch am Schreibtisch vor, aber in der grausamen Wirklichkeit schalteten diese Bestien das Radio ein, um sich Fußballspiele anzuhören … Dann aber hätte Dorfman sein Stück »Elfmeter« oder so nennen müssen. Vielleicht war es besser, Elias in den Ablauf der heutigen Ereignisse einfach ungewarnt hineingeraten zu lassen, was immer auch geschehen mochte; dann würde er sie, Gretl, nicht vorher schon mit Anspielungen auf ihre paranoiden Fantasien plagen, um sich später schämen zu müssen.
Sie beobachtete jetzt Clementine, die sich als Erste ihrer festlichen Tafel näherte. Gebückt, schlurfend, hielt sie auf ihren Ehrenplatz unter der Linde zu, wankend zwar, aber, eigensinnig wie immer, ohne Stock. In wiegenden Schritten folgte ihr Rotraud, ein dickes Kissen unter das lachende Kinn gedrückt, »übertrieben servil«, wie Gretl fand. Sie eskortierte Clementine zu ihrem Platz an der Mitte der Tafel, beklopfte das Kissen und legte es auf den Sitz. Die Greisin blieb noch stehen und überblickte, offenbar misstrauisch prüfend, das aufgestellte Gedeck. Dann wehrte sie Rotrauds hilfsbereit geöffnete Arme ab und ließ sich in den Sessel fallen.
Aus der Nachbarsuite vernahm Gretl die Wasserspülung des WC s. Vorhin, in der Küche, hatte Benny nach dem Joggen nur ein Glas Buttermilch getrunken und für Sarah wieder die eingewässerten Dörrzwetschken aufs Zimmer mitgenommen. Trotz ihrer Beklemmung musste sie schmunzeln. In den beiden vergangenen Tagen hatten Eli und sie den lang anhaltenden und unbesorgt lauten Morgensex der beiden vernehmen können. Eli, der alte Sack, hatte dabei, in seiner mitfeiernden Art, die Arme hochgeworfen, als wäre er der Sieger in dieser Sportart. Das war einmal! Wenn nur der Rohr heute nicht käme … Sie konnte diesen Wunschgedanken nicht unterdrücken und ärgerte sich zugleich über ihre Schwäche oder Feigheit. Denn wie anders sollte ein fürchterliches Verbrechen des vergangenen
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