Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
Vom Netzwerk:
Jahrhunderts an den Tag kommen? Tief durchatmend stand sie auf, um sich zum Hinausgehen vorzubereiten.
    Ich muss auf jeden Fall mit Sarah und Benny zusammen an den Tisch kommen. Dort werde ich mich direkt gegenüber von Clementine platzieren. Und wenn das Schlimmste eintritt, das Böse auftritt, will ich ganz da sein.

11
SIEGMUND
    Eben noch war er so entschlossen an den Kamin getreten, nun stand er steif davor und starrte verständnislos auf die Hundeleine. Was baumelt da von meinem Handgelenk? Vielleicht halfen ihm die Bilder auf dem rauchgeschwärzten Sims. Die Frau mit Kopftuch und Schürze: Mutti im gediegenen Silberrahmen. Daneben zwei lachende junge Männerköpfe, mit braun furnierten Holzleisten gerahmt: Der eine, in aufgeknöpfter schwarzer Uniformjacke – Jost –, hat mir, im weißen Kellnerjackett, seine Unterscharführer-Dienstmütze mit Parteiadler und Kinnriemen in burschikosem Winkel auf den Scheitel gedrückt. Im Hintergrund, unscharf, ein paar Tische und weitere Gestalten – in der »Moststube Frellerhof«. Darunter in Sütterlinschrift: »Mit Jost, Mauthausen, Sept. 1939«. Und rechts davon, im großen, rahmenlosen Glas, die herrliche Farbaufnahme von … von … Ach, Mist! Das ist er doch!, in der Vergrößerung eines Bildausschnitts: der deutsche Schäferhund mit heraushängender Zunge und am Boden neben ihm ein Schuh, darüber ein Hosenbein, das bis hinauf zu einem karierten Sportsakko reicht; von der Seite her kommt meine Hand aus einer Manschette und liegt mit kraulenden Fingern zwischen den gespitzten Hundeohren. Deutlich sichtbar, mein Siegelring. Wenn doch wieder diese raue Zunge mir den Handrücken leckte, oder das Gesicht. Wie hast du geheißen, du lieber Hund? Aus dem Kamin wehte ihn der Geruch kalter Asche an.
    Und in diesem Augenblick geschah das Wunder wieder. Durch das Halbdunkel des Wohnzimmers – die Gardinen waren zugezogen – schoss ein glänzend gestriegelter Dackel an ihm vorbei, zum Telefontischchen hin, streckte sich daran hoch und kratzte und schabte mit seinen Vorderpfoten auf der Glasplatte. Dann erst klingelte der Apparat.
    »Bravo, Lumpi!«, feierte er den Hund und fühlte sich gleich etwas gelockert. »Wir haben es wieder einmal geschafft!« Zur Belohnung streichelte er ihm über den Kopf. Erst beim vierten Klingelton nahm er ohne Hast den Hörer ab. »Siegmund Rohr, wer spricht?«
    Fritz Cirigliano meldete sich aufgeregt zu Wort. Sigi möge bitte »Möische« und ihn bei Clementine und den Laglers entschuldigen. In Quemquemtréu sei der Hantavirus ausgebrochen. Der Schmutz und die Leichtfertigkeit der Menschen im Ort fänden wieder einmal ihre Bestrafung. »Möische« und er dächten nicht daran, vom Berghof hinunterzufahren und auch nur einen Meter durch das verseuchte Kaff zu kommen. Dann stolperten die Worte über seine Gesichtslähmung, Fritz konnte sich in der Aufregung nicht mehr artikulieren, und seine Frau nahm ihm den Hörer weg. »Hörst du mich Sigi, wir wollen nicht selbst im Tilo-Hof anrufen, jedenfalls nicht heute, an Clementines Jubiläum. Das löst dort oben nur Panik aus. Außerdem wird Rotraud versuchen, auf uns einzureden, um uns so weit zu bringen, dass wir trotz allem fahren. Dem sind wir nicht gewachsen. Fritz hat es dir ja schon erklärt. Enzo und seine Feuerwehr haben vorhin schon drei Fälle ins Krankenhaus gebracht. Sigi, du bist der erfahrene Hotelier, eine gewisse Liebedienerei fällt dir von Berufs wegen leicht, versteh das bitte nicht abfällig. Du wirst uns beide schon elegant zu entschuldigen wissen. Leider passiert das gerade zu Clementines Neunzigstem. Morgen aber werden wir selbst bei Laglers anrufen und der Grande Dame gratulieren. Euch allen noch viel Vergnügen heute! Es tut mir leid.«
    Die Nachricht vom Hantavirus beeindruckte Siegmund überhaupt nicht: so wenig wie der Hinweis auf seine angebliche déformation professionelle, die Liebedienerei. Er ging gar nicht auf das ein, was ihm sein alter Geschäftspartner und dessen Frau von der Infektionsgefahr berichteten, und beleidigt war er schon gar nicht. Über alle diese Dinge war er hinaus. »Hör doch nur, Mausi, wir haben es wieder geschafft! Sag’s auch an Fritz weiter, ja? Das Wunder ist wieder geschehen – und du fragst, was das ist? Lumpi ist ein Telepath, wir wissen im Voraus, wann jemand anrufen wird. Ich frage mich schon, ob wir nicht die Zukunft überhaupt voraussagen könnten.«
    Daraufhin war Fritz wieder am Apparat. »Möische« habe ihm von der neuesten

Weitere Kostenlose Bücher