Scherbenhaufen
Sommer.
Das Schiffshorn dröhnt und kündet die nächste Station an. Am Quai drängelt eine Meute rüstiger Senioren, bewaffnet mit Walkingstöcken und Halbtax-Abonnementen. Das Platzproblem an Bord wird sich zuspitzen, da deutlich mehr Leute zu- als aussteigen. Hoffentlich stoppt Kapitän Noah diese Einschiffung, bevor die Arche zu sinken droht.
Die Zeit verrinnt in der weiß schäumenden Fahrrinne des beflaggten Hecks. Die ›Blümlisalp‹ führt uns zu den Ländten Spiez, Oberhofen, Gunten, Merligen und Beatenbucht. Blühende Kirschbäume zieren die Ufer. An den Voralpen glitzert der Frühlingsschnee in der Nachmittagssonne. Auf der Walalp widersetzt sich der Jakobsfleck chancenlos der schmelzenden Wärme.
Als wir gegen 14.30 Uhr in den heimischen Schiffskanal einfahren, gewinnt das Thema der mutmaßlichen Wasserleiche plötzlich wieder an Brisanz. Eine Vielzahl von Uniformierten wieselt nämlich auf der Kleistinsel herum. Das Gittertor zum Inselsteg steht jetzt sperrangelweit offen. Davor parken mehrere Polizeiautos. Den dunkelgrauen Leichenwagen mit den sichtgeschützten Scheiben habe ich im ersten Augenblick beinahe übersehen.
16
Der Leiterin des Alters- und Pflegeheimes Alpenruh habe ich vorgestern mein Angebot unterbreitet.
»Ich wäre bereit, einen Bewohner oder eine Bewohnerin Ihrer Institution einen Nachmittag lang auszuführen.«
Frau Ingeborg Hadorn hat die Idee begrüßt und versprochen, sich nach Interessenten umzusehen. Es werde sich rasch jemand finden, der für Abwechslung dankbar sei, meinte sie am Telefon.
Nun stehe ich ungeduldig im Entree des Heims und erwarte mein Opfer. Aus dem Hintergrund dudelt Ländlermusik von ›Oesch’s die Dritten‹. Es duftet nach Lavendel. Schätzungsweise ein lang anhaltendes Synthetikparfum als Sofortfrische aus der Spraydose. Mein WC riecht ähnlich.
Nach wenigen Minuten wird eine betagte Mutti im Rollstuhl hereingefahren. »So, Frau Gäggeler«, flötet Frau Hadorn. »Das wäre der Herr Feller. Er macht mit Ihnen einen schönen Ausflug.«
Die Alte ist beinmager und spindeldürr. Das schlohweiße Haar wurde ihr zur pflegeleichten Kurzhaarfrisur gestutzt. Sie trägt einen hellblauen Jogginganzug und graue Filzpantoffeln. Mit der rechten Hand umklammert sie ein kariertes Schnupftuch. Damit wischt sie sich alle paar Augenblicke zittrig über den schmallippigen Mund.
Frau Gäggeler starrt mich misstrauisch an und brabbelt: »Wer bist du?«
Der gemeinsame Wackel wird nicht einfach werden, befürchte ich. Ich neige mich zur Greisin hinunter und wiederhole deutlich meinen Namen. »Feller. Wir gehen zusammen in die Stadt.«
»So«, meint die Angesprochene kurz angebunden.
»Ja, Frau Gäggeler, in die Stadt«, bestätigt Frau Hadorn.
Hier ist Geduld am Platz. Jürg Lüthi erwartet uns auf dem Schlossberg glücklicherweise erst in einer halben Stunde.
»Gemeinsam besuchen wir das Schloss. Kennen Sie es?«, will ich wissen, um das Gespräch aufrecht zu erhalten und den baldigen Abmarsch einzuleiten.
»Ja, ja«, antwortet die Rentnerin wenig begeistert.
»Dort schauen wir uns die Ausstellung an«, verspreche ich weiter. Das erweist sich als Fehler.
Die Alte lehnt kurzerhand ab. »Nichts da. Keine Ausstellung.«
Ihr Widerstand kommt unerwartet und ungelegen.
Frau Gäggeler wiederholt sich. »Nicht in das Schloss …«
Ingeborg Hadorn fällt ihr ins Wort. »Herr Feller ist speziell für Sie hergekommen.« Ihr anfänglich milder Tonfall hat eine Färbung ins Bedingungslose angenommen.
»Ich gehöre nicht ins Museum«, betont die renitente Seniorin.
Offenbar habe ich ihren Willen unterschätzt. »Wo möchten Sie denn hin, Frau Gäggeler?«, erkundige ich mich, um meine momentane Ratlosigkeit zu überbrücken.
Sie fordert klar und deutlich: »Ich will aufs Schiff!«
Ich werfe einen verstohlenen Blick auf eine Wanduhr. Wir verlieren mehr Zeit als eingeplant. Notgedrungen willige ich ein: »Gut, wir gehen zusammen aufs Schiff.«
Frau Gäggeler strahlt.
»Zuvor zeige ich Ihnen noch die schönen Krüge im Museum.«
Ihre Miene verdüstert sich schlagartig.
Frau Hadorn weibelt umsonst. »Das ist eine wundervolle Idee: Zuerst das Schloss, danach das Schiff.«
Zu spät. Die Alte hat das Feilschen um den Zielort satt. Sie erklärt kurz und bündig: »Ich bleib’ hier!«
Der Datenklau scheint unter keinem guten Stern zu stehen, wenn bereits der erste Punkt des Plans zu scheitern droht. Eine rasche Lösung muss her!
Während Frau
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