Scherbenhaufen
Zieh’ dich warm an.« Eleonore Günther legt auf.
Ich reg’ mich auf.
Hoffentlich hat sich Jürg Lüthi in der Zwischenzeit ein Ersatzgerät beschafft. Das Mobiltelefon seiner vergötterten Marie-Josette etwa oder jenes von Stefan, dem Adoptivsohn. Mein Apparat bleibt jedoch hoffnungslos stumm. Unentschlossen greife ich zur Sonntagszeitung von vorletzter Woche und konsultiere mein Horoskop: ›Mit Ihren beruflichen Ideen folgen Sie der richtigen Spur, doch die Zeit für die Umsetzung ist noch nicht reif. Nutzen Sie die nächsten Tage, um sich gut zu informieren. In der Liebe erleben Sie eine intensive Zeit, erwarten Sie vom Partner aber nicht zu viel.‹
Obschon das Zeitfenster für diese Prophezeiungen längst geschlossen ist und sich die Konstellation der Sterne seither verändert hat, überprüfe ich die situative Gültigkeit der hellsichtigen Plattitüden. Soll ich jetzt höchstpersönlich zu Lüthis nach Hause fahren? Auf das Wichtigste bin ich in der verkürzten Telefonsitzung mit meinem Assistenten nämlich überhaupt nicht zu sprechen gekommen.
13
»Merde!« Fast wäre Adam Füssli gestrauchelt. Deshalb fluchte er jetzt drauflos. Hinter ihm krachte und klirrte es gewaltig. Dessen ungeachtet, stürmte er zum Notausgang. Dort zerriss er das Siegel, drückte die Verglasung im roten Rahmen hoch und betätigte den schwarzen Knopf.
Dabei hatte vor Wochen alles so nett begonnen. Die reizende Gymnasiastin hatte sich seinen Avancen gegenüber empfänglich gezeigt. Jedenfalls schien ihm das erste Geplänkel im Schlossmuseum vielversprechend. Von da weg besuchte er Eva Rechberger in jeder freien Minute. Dass sich das Gerichtsgebäude neben dem Schloss befand, kam ihm gelegen. Dem bevorstehenden Wegzug des Amtsgerichts in ein Außenquartier sah er mit Bedauern entgegen. Würde die zarte Verbindung zwischen ihm und der Gymnasiastin auch auf Distanz halten? Fand er künftig noch Zeit und Muße, sich mit Eva zu treffen?
Heute schien der Augenblick günstig. Es waren keine weiteren Museumsbesucher im Raum. Eva Rechberger trippelte wie eine zerbrechliche Porzellanfigurine vor der Schautöpferei hin und her. Freudig begrüßte sie den Richter, als dieser im Keller auftauchte.
Er wagte einen Kuss auf ihre Lippen.
Sie ließ ihn gewähren.
Darauf schlug er vor, sich für einen Augenblick in einen der antiken Holzschlitten zu setzen.
Eva zögerte. Durften sie das?
Adam Füssli zerstreute die Bedenken, ergriff ihre Hand und zog das Mädchen in die plüschigen Polster. Hier wurde es von der Heftigkeit der richterlichen Zuneigung überrumpelt. Der Entflammte presste Evas Kopf gewaltsam nach hinten und fixierte ihren Oberkörper mit der Last seines schweren Leibes. Er keuchte vor Erregung und begann zu schwitzen wie ein Bär. Leidenschaftlich verteilte er schlabbernde Küsse über ihr ganzes Gesicht.
Als er gar versuchte, mit seiner fleischigen Zunge in ihren Schlund zu dringen, begann Eva sich entschieden zur Wehr zu setzen. Angewidert wendete sie den Kopf zur Seite. Hilfe suchend starrte sie auf das hölzerne Löwenhaupt über den hochgebogenen Kufen des knarrenden Figurenschlittens. Das geschnitzte Tier sperrte seinen roten Rachen weit auf, als wär’s auch ihm zum Kotzen.
Unverhofft hallten Schritte aus dem Treppenhaus. Die Bedrängte schrie um Hilfe und vernahm darauf eine vertraute Stimme: »Eva? Bist du es?«
Sie flehte: »Niklaus, Niklaus!«
Adam Füssli ließ sich durch den Wortwechsel irritieren und lockerte den Griff um Evas Handgelenke. Diesen Moment nutzte sie, um den Peiniger abzuwehren. Er konterte den Schlag mit einer ruckartigen Schutzbewegung. Die hatte wiederum zur Folge, dass sich sein künstliches Stirnhaar in den Fängen des Mädchens verfing.
»Eva, ich helfe dir!«, versprach Niklaus Weihermann, während er heranstürmte und den Richter zur Flucht zwang. Füssli gab Fersengeld. Sein Freiersglück lag in Scherben.
14
Tatsächlich bin ich mit meinem ferrariroten Moped bei Jürg Lüthi vorgefahren. Dieser persönliche Hausbesuch liegt mir mindestens so am Herzen wie auf dem Magen. Denn, wie zuvor erwähnt: Bei unserem letzten Telefonat habe ich das Wichtigste noch gar nicht vorgetragen. Umso eindringlicher bitte ich meinen Assistenten jetzt im Korridor seiner Vierzimmerwohnung um Anhörung und Verständnis. Auf dem Boden liegen verknotete Sneakers, ein Paar schwarze Herrenschuhe im Casual-Chic und Marie-Josettes glanzlackierte High Heels. Ich stehe kurz davor,
Weitere Kostenlose Bücher