Scherbenhaufen
verspricht fünf Stunden kulinarische Abwechslung, Aus- und Einblicke in Chalets und Villen der Uferpartie und jede Menge frische Seeluft.
Überraschend entsteht backbord ein Gedränge. Das Schiff verlässt soeben den Kanal, wo sich linkerhand eine kleine Insel befindet. Darauf hatte sich einst der Dichter Heinrich von Kleist ein Haus gemietet.
Im Frühjahr vor der großen Schneeschmelze, wenn der Wasserpegel noch niedrig steht, ragt an der Südspitze der Kleistinsel eine schmale, steinige Uferpartie aus dem See. Dort nächtigen weiße Höckerschwäne. Jetzt recken sie ihre langen Hälse und schlagen aufgeregt mit den Flügeln.
Eleonore Günther ist zur Reling des hinteren Freidecks geeilt. »Hanspeter, komm’ rasch her!«
Ich erhebe mich eher widerwillig. Vorsichtshalber lasse ich den gerollten Taschenschirm als Reservationsmarke auf unserer Sitzbank liegen.
Meine Begleiterin streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn und weist zur Insel: »Ich befürchte, dort drüben liegt ein Mensch!«
Ich kneife skeptisch die Augen zusammen. »Ist vielleicht nur Schwemmholz?«
»Bestimmt nicht, Hanspeter. Das ist eine Wasserleiche.«
»Ach was! Allenfalls pennt einer seinen Rausch aus.«
»Am Ufer? Wie hätte er dort hingelangen können?«, zweifelt sie.
»Über den schmalen Steg, der von der Aarehalbinsel hinüberführt«, gebe ich zur Antwort.
»Ausgeschlossen. Der Zugang ist mit einem Metallgitter versperrt. Das müsste dir eigentlich bekannt sein, Hanspeter«, tadelt die Holde. »Unerwünschte Besucher bleiben von der Kleistinsel ausgesperrt.«
Ich nicke und schiele zu unseren Sitzplätzen zurück. Mist! Sie sind bereits von drei indischen Touristen belegt worden. Und wo ist mein schöner Schirm hingekommen?
Eleonore Günther sperbert noch immer besorgt zur entschwindenden Dichterinsel.
Ich beschwichtige meine Begleiterin mit der zweideutigen Ankündigung: »Wenn dort drüben tatsächlich ein Toter liegt, steht er morgen im Tagblatt.« Darauf schreite ich entschlossen auf die Inder zu. »Hallo! Where is my …?«
Eleonore Günther hat mich eingeholt. »Hanspeter, mach’ kein Theater. Lass’ die Leute sitzen«, rät sie.
Ich und Theater? »Sag’ mir lieber, was Regenschirm auf Englisch bedeutet!«, fahre ich sie an.
»Umbrella«, antwortet Eleonore prompt.
Ich wende mich erneut an die Inder. Als ich im Begriff bin, den angelsächsischen Brocken auszuspucken, hält mir einer der Platzdiebe lächelnd den gerollten Schirm entgegen. Wortlos nehme ich ihn an mich und übersehe großmütig den Umstand, dass wir unsere windgeschützte Ecke dennoch losgeworden sind.
Heimatlos schlendern wir über das Oberdeck. Bevor das Schiff vor der Gemeinde Hünibach angelegt hat, sind Eleonore und ich im geschlossenen Salon der ersten Klasse fündig geworden. Unsere neuen Plätze liegen jetzt sogar in Fahrtrichtung. Glücklicherweise ist der historische ›Rauchsalon‹ längst rauchfrei.
Ein korpulentes Weibsbild betritt den Fumoir. Es pflanzt sich vor uns hin und schnarrt: »Da finde ich auch noch Platz, oder?«
Ich weise freundlich auf die freie Bank vis-à-vis und kontere: »Dort drüben wäre alles frei.«
Die Angesprochene mault: »Ich fahre lieber vorwärts«, und lässt sich wie ein Sandsack in die knapp bemessene Lücke zwischen mir und der Schiffswand plumpsen. Die Planke zu ihrer Rechten hält dem Druck stand. Mein Sitzfleisch hingegen wird um mehrere Zentimeter verdrängt. Widerwillig gebe ich eine Fingerbreite dazu und vermeide so weiteren Körperkontakt.
Der Sandsack knirscht: »Dorli wird sich auf die andere Seite setzen.«
Keine Ahnung, von wem die Rede ist. Ich schnöde dennoch: »Vielleicht möchte Dorli ebenfalls vorwärts reisen?«
Verwirrt mustert mich die Kritisierte und wehrt ab: »Nein, nein. Ihr macht es nichts aus.«
Mit hochgezogenen Augenbrauen signalisiert mir Eleonore Günther die Deeskalation und beendet den Disput um den multiplikativen Effekt zwischen optimierter Sitzordnung und idealer Fahrtrichtung.
Eine herausgeputzte Dame mit breitrandigem Strohhut setzt sich kurz danach auf die freie Holzbank gegenüber. Ist es Dorli? Ich gebe mich demonstrativ desinteressiert und kümmere mich ausschließlich um meine charmante Begleitung. Sie schwärmt vom umwerfenden Erfolg der Neueinspielung der ›Thuner-Sonate‹ von Johannes Brahms. Sie habe ihr CD-Label aus den roten Zahlen gehievt, rühmt die Geschäftsfrau.
Danach schmieden Eleonore Günther und ich Ferienpläne für kommenden
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