Scherbenhaufen
Wolkenband über die Stockhornkette.
Ich sitze in der Detektei und fröstle, obschon die Radiatoren voll aufgedreht sind. Die E-Mail an Hauptmann Anton Geissbühler habe ich gestern nach anfänglichem Zögern doch noch abgeschickt.
Darum ruft er mich jetzt zurück. »Gut möglich, dass es sich um die Überreste des Ruderbootes handelt, das im Seeclub ausgeliehen wurde«, räumt Anton Geissbühler ein. »Wir sind daran, das zu überprüfen.«
»Und wie steht es mit der Identifizierung der Leiche?«, erkundige ich mich.
»Dazu ist mehr Zeit erforderlich. Es sind nämlich unerwartete Schwierigkeiten aufgetreten.«
»Inwiefern?«, frage ich nach.
Der Hauptmann zögert, als müsste er erst abwägen, ob nähere Auskünfte zu verantworten seien. »Der Tote befindet sich in einem grauenhaften Zustand. Der Leiche fehlt der ganze Unterkiefer.«
Ich schlucke leer.
Anton Geissbühler fährt fort: »Falls der Mann tatsächlich mit einem Boot gekentert sein sollte, suchen wir nach Erklärungen für die gravierende Verletzung. Wie kann man beim Ertrinken den Kopf verlieren?«
Seine Frage irritiert. Glücklicherweise wird am andern Ende der Leitung keine spezifische Reaktion erwartet.
»Möglicherweise handelt es sich um eine Art Treibverletzung. Die Leiche wird irgendwo hängengeblieben sein, als sie am Seegrund trieb. Die blanken Knochenteile der Wirbelsäule und die blutleeren Hautfetzen deuten darauf hin. Die Strömung hat den Leib dann gewaltsam vom verkeilten Kiefer getrennt.«
»Verstehe«, murmle ich und entnehme der Pultschublade eine Heftklammer und spiele nervös mit ihr herum. Dabei ist das Metallding nur zweite Wahl. Ich vermisse in solchen Momenten die elastische Telefonschnur der alten Leihapparate. Das schwarze Kabel ließ sich unzählige Male spiralförmig um den Zeigefinger wickeln, der danach mit einer ruckartigen Streckung von der Strippe befreit wurde. Das Verbiegen von Heftklammern macht nicht annähernd so viel Spaß. Gnadenlos quäle ich den unschuldigen Draht, bis er bricht.
Der Hauptmann fährt ungerührt fort: »Auf Treibverletzungen lassen übrigens auch die Abschürfungen an Händen und Füßen schließen.«
»Ist Ertrinken als Todesursache somit erwiesen?«, will ich von ihm bestätigt haben.
»Die definitiven Ergebnisse der Autopsie stehen noch aus«, gesteht der Beamte. »Sie werden Klarheit schaffen, auch über die eigentliche Unglücksstelle. Falls das Opfer ertrunken ist, befinden sich Kieselalgen in seinen Lungen. Deren nähere Bestimmung lässt einen ziemlich genauen Rückschluss auf den Ort des Unglücks zu. Unterschiedliche Wassertiefen und Strömungsverhältnisse führen unterschiedliche Algen.«
»Und falls der Mann nicht ertrunken ist?«
»Dann war er schon tot, bevor er im See lag«, erklärt Hauptmann Geissbühler.
Ich deutsche aus: »Sie meinen, die Leiche könnte beispielsweise in ein Schiff gelegt worden sein, das anschließend zum Kentern gebracht wurde?«
»Wenn der Leichnam bei Sturmwarnung entsorgt wurde, ist das durchaus denkbar. Die Untersuchung der Holztrümmer wird Aufschluss geben, ob es sich tatsächlich um Teile des vermissten Ruderboots handelt. Wir werden zudem die fraglichen Wetterberichte konsultieren.«
»Herr Geissbühler, was vermuten Sie, wie lange der Tote bereits im See gelegen hat?«
Darauf lässt sich der Hauptmann ungern ein. »Wie gesagt, die Untersuchungsergebnisse …«
»Tage oder Wochen?«, hake ich nach.
»Nur Tage. Dafür habe ich oft genug Wasserleichen aus dem See gefischt«
Anton Geissbühler kann nicht ahnen, dass er in mir Erinnerungen weckt an aufgequollene, blaugrün verfärbte Leiber und bizarr verunstaltete Fratzen.
Die Katastrophe im thailändischen Phuket begann mit der Aufforderung zur Flucht.
22
»Go, go, go!«, schrie ein Thailänder am Sandstrand und stürmte heran.
Was war los? Wozu die Aufregung?
»Look at the sea!«, keuchte der Mann, als er neben meinem Liegestuhl kurz Halt machte und in Richtung Meer fuchtelte. »Water is coming back!«
Aber da war kaum Wasser zu sehen. Bis gerade eben, jedenfalls. Vor rund einer halben Stunde hatte sich die andamanische See überraschend verabschiedet. Tausende von Fischchen, kleinen Krebsen und Muscheln hatten den Aufbruch verpasst und brieten jetzt ungeschützt an der Sonne. Freudig sammelten einheimische Kinder die Meeresfrüchte ein und wagten sich dabei weit in die Sandwüste der entleerten Bucht hinaus.
In aller Herrgottsfrühe des Stefantags 2004 war ich mit
Weitere Kostenlose Bücher