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Scherbenhaufen

Scherbenhaufen

Titel: Scherbenhaufen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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ich mich still. Währenddessen trieben führerlose Autos wie Gondeln durch die Häuserschluchten. Destabilisierte Reklamesäulen und unterspülte Masten krachten mit Tosen in trübe Sturzbäche.
    Vom Dach eines gegenüberliegenden Gebäudes schrien und winkten Gerettete. Es dauerte eine Weile, bis ich realisierte, dass sie meine Aufmerksamkeit zu wecken suchten. Da erst entdeckte ich unweit meines Fassadenvorsprungs eine junge Frau im Wasser. Wie konnte ich ihr helfen?
    Ich kehrte zum gespaltenen Glas zurück und versuchte, die Hilfesuchende auf den rettenden Telefonmasten aufmerksam zu machen.
    Sie schaffte den Aufstieg. Als ich die Frau an ihren ausgestreckten Armen den letzten Meter zu mir hochzog, stieß sie einen kurzen Schrei aus. Eine 30 Zentimeter lange Schnittwunde führte quer über ihren Bauch.
    »Hi. I’m Ingrid«, keuchte die Frau tapfer. Sie stammte aus Schweden. Kaum hatte sie die Puste wiedergefunden, flehte sie: »Wir müssen meinen Vater holen. Er ist noch irgendwo da unten!« Sie machte Anstalten, ins heillose Chaos zurückzukehren.
    Ich tat mein Möglichstes, sie davon abzuhalten. »Du wirst ihn jetzt nicht finden. Er hat sich vermutlich anderswo in Sicherheit gebracht. Bleib da!«, suchte ich sie zu beruhigen.
    Sie schien nicht zuzuhören und kauerte bereits sprungbereit am Abgrund.
    In diesem Augenblick meldete sich überraschend der Engländer. Er hockte in einiger Distanz auf dem Beton und hatte seit seinen wüsten Beschimpfungen nichts mehr von sich gegeben. Mit deutlichen Worten befahl er der verwirrten Schwedin: »Stay here!« Sie gehorchte.
    Erneut kurvte ein Militärhelikopter über unsere Köpfe. Via Megafon wurden wir aufgefordert, die Dächer zu verlassen und ins erhöhte Landesinnere zu fliehen. Offenbar wurde die haushohe Hauptwelle des Tsunami erst noch erwartet.
    »Müssen wir hier tatsächlich weg?«, fragten wir uns und zögerten. Zu dritt zogen wir dennoch los. Als wir ein paar Minuten später wieder im brusthohen Dreckwasser wateten, begann der Engländer nach herrenlosen Klamotten zu fischen. Die Sonne sengte inzwischen unbarmherzig vom wolkenlosen Ferienhimmel herunter. Das Wetter schien so nicht zu einer Katastrophe zu passen. Ingrid trug nur BH und Slip. Alles was mir geblieben war, war eine zerfetze Badehose.
    Wir folgten dem Beispiel des Briten und wurden ebenfalls fündig. Ich ergatterte ein T-Shirt und zog es rasch über. Bald darauf angelte ich eine grüne linke und danach eine schwarze rechte Gummisandale aus dem Wasser. Sogar einen lädierten Strohhut gönnte mir der Zufall.
    Unvermittelt tauchte eine circa 40-jährige Europäerin aus einer überfluteten Seitengasse auf. Mit den Worten: »Can you take this baby?« drückte sie mir einen thailändischen Säugling an die Brust.
    Ratlos blickte ich zuerst zur Unbekannten und danach zu Ingrid. Ihr Bauch hatte aufgehört zu bluten. Weißliche Wundränder hatten sich nach außen gewölbt und boten einen ungewohnten Anblick. Wurde darum nicht ihr, sondern mir das Baby in die Arme gelegt? Was sollte ich damit anfangen? Wie konnte ich für das Kleinkind sorgen?
    Der Engländer war währenddessen einfach abgehauen.
    Da entriss mir die Frau das Kleinkind ebenso unmotiviert aus den Armen, wie sie es zuvor hatte loswerden wollen. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Dafür blieb es fast stehen, als wir kurz darauf am ursprünglichen Standort meines Hotels vorbeikamen. Die Anlage war nicht wiederzuerkennen. Kaum vorstellbar, dass im trostlosen Trümmerhaufen jemand überlebt haben könnte.
    Ich begann zu ahnen, was für Schwierigkeiten noch zu überwinden waren, ohne Geld, ohne Papiere, ohne Gepäck.
    Am Rande der zerstörten Zone erwarteten uns uniformierte Thais mit Transportmitteln und Katastrophentouristen mit Foto- und Videokameras. Wie geschundene Sklaven einer gesunkenen Galeere wankten wir dem kuriosen Empfangskomitee entgegen.
    Ingrid wurde umgehend von Sanitätern in Empfang genommen. Bevor wir uns richtig von einander verabschiedet hatten, wurde sie bereits auf die offene Ladefläche eines Pick-ups gehievt und weggefahren. Ich blieb allein zurück. An Ort und Stelle ließ ich mich in den Straßengraben fallen. Total fertig.
    Nach geraumer Zeit vernahm ich eine Stimme über mir. Ein fremder Mann mit Rucksack forderte mich grußlos zum Mitgehen auf.
    Ich stellte keine Fragen und folgte willenlos. Mir war alles egal. Was hatte ich zu verlieren?
    Der weiße Unbekannte verhalf mir völlig selbstlos zu Unterkunft und Verpflegung.

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