Scherbenhaufen
Hanspeter«, entgegnet Eleonore. »Es lag an den unsicheren politischen Umständen im Bernerland. Sie ließen Kleist befürchten, dass er französischer Untertan würde.«
Ich räume ein, dass ich mir den behäbigen Schweizer Kanton schwerlich als internationalen Krisenherd vorstellen kann.
»Doch! Zu jener Zeit marschierten hier die Franzosen ein«, informiert mich Eleonore. »Vor denen fürchtet sich Kleist gewaltig. Er meldete seine Bedenken dem Berner Freund Heinrich Zschokke: ›Mich erschreckt die bloße Möglichkeit, statt eines Schweizerbürgers durch eines Taschenspielers Kunstgriff, ein Franzose zu werden. Sie werden von den Unruhen in Simmenthal gehört haben. Es sind bereits Franzosen hier eingerückt, und nicht ohne Bitterkeit habe ich ihrem Einzuge beigewohnt.«
»Zschokke? Meinst du den Novellisten?«, erkundige ich mich.
»Richtig«, bestätigt Eleonore. »Anlässlich einer Zusammenkunft wurde bei Zschokke die Initialzündung zum ›Zerbrochenen Krug‹ gelegt. Als ehemaliger Deutschlehrer müsste dir das eigentlich bekannt sein«, stichelt mein reizender Gast. »Der Berner machte Kleist mit Ludwig Wieland und dem Buchhändler Heinrich Gessner bekannt. Bald schon festigte ein gemeinsames Projekt die Runde. Die Freunde vereinten sich wie Virgils Hirten zum poetischen Wettkampf.«
»Inwiefern hat diese Anekdote mit Kleists gescheitertem Bauerntum zu tun?«, frage ich.
»Statt sich den Hof zu kaufen, mietete sich Kleist in Thun ein Haus. Dort realisierte er seinen Beitrag zum Wettschreiben, das er schließlich gewinnen sollte. Voller Tatendrang bezog er eine möblierte Liegenschaft auf dem oberen Aareinseli. Davon habe ich eine historischen Aufnahme gefunden.« Eleonore blättert in den Unterlagen und pflückt eine blasse Fotokopie heraus. »Das Gebäude stand nur wenige Meter vom Wasser entfernt, inmitten hoher Laubbäume. Es stellte einen zweistöckigen, schmalen Holzbau mit Satteldach und frontaler Dachründe dar. Entlang der linken und rechten Längsseiten führte je ein Balkon. Eine hölzerne Außentreppe bildete den Aufgang von der Terrasse zu einer der beiden ›Lauben‹. Dem Häuschen vorgelagert, stand dieser viereckige Holzpavillon mit den eigenwilligen Spitzbogenfenstern.«
»Eine Idylle?«, frage ich.
»Damals bestimmt«, meint meine Besucherin und berichtet, was Kleist am 1. Mai 1802 an Ulrike schrieb: ›Jetzt leb’ ich auf einer Insel in der Aare, am Ausfluss des Thunersees, recht eingeschlossen von Alpen, eine Viertelmeile von der Stadt. Ein kleines Häuschen an der Spitze, das wegen seiner Entlegenheit sehr wohlfeil war, habe ich für sechs Monate gemietet und bewohne es ganz allein. Auf der Insel wohnt auch weiter niemand als nur an der anderen Spitze eine kleine Fischerfamilie mit der ich schon einmal um Mitternacht auf den See gefahren bin, wenn sie Netze einzieht und auswirft.
Der Vater hat mir von zwei Töchtern eine in mein Haus gegeben, die mir die Wirtschaft führt: ein freundlich-liebliches Mädchen, das sich ausnimmt wie ihr Taufname, Mädeli. Mit der Sonne stehen wir auf, sie pflanzt mir Blumen in den Garten, bereitet mir die Küche, während ich arbeite; dann essen wir zusammen; Sonntags zieht sie ihre schöne Schweizertracht an, ein Geschenk von mir, wir schiffen uns über, sie geht in die Kirche nach Thun, ich besteige das Schreckhorn, und nach der Andacht kehren wir beide zurück.«
»Darüber, ob er nach dem Schreckhorn auch das Mädeli bestieg, darf spekuliert werden«, stichle ich.
»In dieser Frage gibt es vage Anhaltspunkte. Kleist formulierte im Brief an seine Schwester die mehrdeutigen Worte: ›Ich habe keinen andern Wunsch, als zu sterben, wenn mir drei Dinge gelungen sind: Ein Kind, ein schön’ Gedicht und eine große That‹. Lange hielt sich darauf das Gerücht, der Schriftsteller sei in Thun Vater geworden.«
Ich suche Gewissheit. »Ist was dran?«
»Man weiß es nicht. Auffälligerweise verlies der Poet die Insel ziemlich überstürzt.«
»Aus Angst vor einer Vaterschaftsklage?«
»In erster Linie aus gesundheitlichen und finanziellen Gründen«, weiß Eleonore Günther.
»Hm, und was geschah danach mit dem Kleisthaus?«
»Die Liegenschaft wechselte mehrmals den Besitzer. 1940 wurde das baufällige Gebäude schließlich abgetragen und landeinwärts durch ein herrschaftliches Landhaus ersetzt. Dabei kam im Kellerschotter des Altbaus das Gerippe eines Neugeborenen zum Vorschein. Durch den makaberen Fund wurden die Spekulationen um die
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