Scherbenhaufen
Untier her?«, zischt Eleonore Günther.
Der Vierbeiner hat uns anvisiert und trabt bedrohlich auf uns zu. Glücklicherweise begnügt sich die Kampfmaschine mit gierigem Schnuppern der Stresshormone. Dennoch ärgere ich mich über den freilaufenden Fleischwolf und wähne im Asylanten den verantwortlichen Metzger. Warum lassen es die Behörden zu, dass nigerianische Drogendealer solche bedrohliche Kreaturen halten? Die Gesamtheit meiner unbestrittenen Vorurteile bündelt sich im Augenblicklich des Unmuts und verstrahlt den nichts ahnenden Fremdling gründlicher, als es sein geklautes Prepaid-Handy in 1.000 Jahren zuwege brächte.
Dann entkräftet der Zufall meine Vorurteile. Nonchalant schlendert eine halbwüchsige Göre hinter einem Stapel sperriger Weidlinge des Pontonier-Fahrvereins hervor. Sie ist es, die den weißen Bullterrier mit der blutroten Haifischfresse zu sich pfeift.
»Sorry, Brother!«, knurre ich reumütig mit Blick auf den Asylanten. »Hab’ mich halt getäuscht.« Und an Eleonore gewandt: »Kann mal passieren, oder?«
Sie nickt gnädig: »Ich kenne das, Hanspeter. Wenn sich die eigenen Vorurteile nicht bewahrheiten, zweifelt man an seiner prophetische Begabung.«
Wir brechen auf. Eleonore Günther begleitet mich nach Hause, wo ich mithilfe der Mikrowelle ein Nachtessen improvisiere. Die Besucherin hat es danach auffallend eilig.
Ich benutze den angebrochenen Abend, um das Kleistdenkmal zu googeln und finde heraus, dass es 1980 von Urban Thiersch aus Berchtesgaden geschaffen wurde. Der deutsche Augenarzt Friedrich Mehlhose verfolgte ursprünglich die Absicht, dem Dichter am Wannsee zu gedenken, Heinrich von Kleists Sterbeort.
Mehlhoses Ansinnen ging leider buchstäblich in die Hose. Das zuständige Berliner Bezirksamt lehnte das Angebot mit der Begründung ab, dass sich an der vorgesehenen Örtlichkeit bereits ein entsprechender Gedenkstein befände.
Eine befreundete Schweizerin machte daraufhin den Vorschlag, die Idee im Berner Oberland zu verwirklichen. Der Thuner Gemeinderat nahm das Geschenk dankend an. Einzig die lokale Künstlerschaft, die den lukrativen Auftrag lieber selbst ergattert hätte, schmollte und schnödete. Dass der Fußweg zum Kleistdenkmal kurz zuvor mit der Bezeichnung Othmar-Schoeck-Weg belegt worden war, befremdete allerdings nicht nur die Kritiker.
24
Am folgenden Morgen überrascht mich Ellen im Büro gleich in dreierlei Hinsicht: Erstens habe ich nicht erwartet, sie nach dem kargen Mahl vom Vorabend so rasch wiederzusehen. Zweitens passiert es selten, dass sie bereits in der ersten Tageshälfte in der Detektei auftaucht. Und drittens verblüfft sie mit detaillierten Kenntnissen zum Dichter, dessen Gedenkstätte wir gestern bewundert haben.
»Ich bringe Neuigkeiten«, verkündet die Besucherin. »Hast du eine Ahnung, wozu Heinrich von Kleist 1802 in die Schweiz gezogen ist?«
Ich stelle das Radio ab, erhebe mich und biete einen meiner vier Besprechungsstühle an. »Vermutlich, um zu schreiben«, antworte ich.
»Irrtum. Er verfolgte ganz andere Ziele«, deutet sie vielsagend an.
Ich hebe ratlos die Schultern und warte auf Aufklärung.
»Kleist spielte mit dem Gedanken, in der Schweiz einen Hof zu erwerben und sich fortan der Landwirtschaft zu widmen.«
»Was? Der zarte Poet als Bauer?«, zweifle ich.
»Ja, Hanspeter. Kleist erhoffte sich vom ländlichen Leben Erlösung für seine gequälte Seele. Ich kann es dir belegen.« Noch bevor ich die Bemerkung losgeworden bin, so wichtig sei mir die Angelegenheit dann auch wieder nicht, hat sich Eleonore zum Einkaufskorb hinuntergebeugt und ihm ein blaues Klarsichtmäppchen mit Papieren entnommen. Sie legt ein Blatt auf das Tischchen und meint: »Kleist schrieb seiner Schwester Ulrike nach Deutschland: ›Ich glaube nun einmal mit Sicherheit, dass mich diese körperliche Beschäftigung wieder ganz herstellen wird.«
»Krüppelei als Kur? Dass ich nicht lache!«
»So ähnlich hat er sich das aber ausgedacht. Er begann jedenfalls, landwirtschaftliche Fachliteratur zu studieren und sich im Berner Oberland nach einem Bauernhof umzusehen.«
Ich bin perplex.
Eleonore fährt fort: »In Gwatt bei Thun fand er eine passende Liegenschaft. Sie sollte ihn 3.500 Taler kosten. Kleist ließ sich den Rest seines Vermögens in die Schweiz überweisen. Der Handel wurde eingefädelt. Aber dann verließ Kleist unvorhergesehen die Courage.«
»Ah, voilà! Doch noch eine realistische Selbsteinschätzung«, stelle ich fest.
»Du irrst,
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