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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Kopf hätte heben können, schlug sie mit der Pfanne zu, zog sie ihm mit einem dumpfen Geräusch seitlich über den Schädel. Die Wucht des Schlages schickte ihn zu Boden. Der Schmerz war so betäubend, so heftig, dass er schreien wollte, aber keinen Ton herausbrachte.
    Seine Mutter brüllte ihn an, doch er konnte ihr Gesicht nicht mehr sehen, seine Sinneswahrnehmung ging im Klang ihrer Worte unter: »Du dreckiger kleiner Bastard«, schrie sie. »Wie konntest du nur! Ich koche und mache sauber, rackere mich ab, und wofür? Für einen dummen, undankbaren Jungen wie dich, der dann alles wieder schmutzig macht.«
    Sie schlug erneut mit der Pfanne zu. Diesmal traf sie ihn jedoch nur leicht. Es war, als sei alle Kraft aus ihr gewichen, als habe die Bestrafung ihren Reiz für sie verloren. Er fühlte den kühlen Pfannenrand an seinem Haaransatz, fiel zurück in eine Art tumben Wachzustand, wurde still, sehr still, ein Zustand, der Stunden zu dauern schien, in dem nur Leere herrschte. Nach einer Weile hörte er, wie sich seine Mutter entfernte, und ihre Schritte auf den Bodenfließen klangen unangebracht leichtfüßig.
    Er schlug die Augen auf, sah niemanden und erkannte, dass er wieder in Sicherheit war, eingebettet in ein seltsam fließendes Gefühl des Nichts. Einige Sekunden später sah er aus den Augenwinkeln erneut die schwarze Masse auf sich zuschwirren, sie glitt in und aus seinem Gesichtsfeld, wie ein lockend wehendes, wirbelndes Gymnastikband.
    Er wusste nicht, wo er war oder was er tat oder wie lange er hier gewesen war. Er wusste nur, dass er sich recken und strecken musste, um die schwarze Masse greifen zu können. Er musste sie berühren, sie anfassen, sie bei sich behalten. Er versuchte, ihren Saum zu greifen, doch in diesem Moment löste sie sich vor seinem Augen auf und tauchte an anderer Stelle wieder auf. Seine Arme wollte ihm nicht gehorchen. Er bekam sie nicht zu fassen. Die schwarze Masse kam und ging, wirbelte um ihn herum und entglitt ihm immer wieder.
    Er war den Tränen nahe.

Janet
    J anet bereitete das Essen schon seit Tagen im Geiste vor. Wenn sie im Postamt in der Schlange stand, um Luftpostbriefmarken zu kaufen, überlegte sie unwillkürlich und ohne es zu wollen, welche Servietten sie kaufen sollte. Wenn sie ihre üblichen dreißig Bahnen im Schwimmbad zurücklegte, hörte sie auf zu zählen und dachte darüber nach, ob eine Kaltschale als Vorspeise nicht doch zu gewöhnlich sei.
    Kaum hatte sie Charlotte gegenüber diese spontane Einladung auf dem Bürgersteig vor Annes Haus ausgesprochen, war zuerst ihre Freude über diesen Vorstoß groß gewesen. Dann hatte sie es mit der Angst zu tun bekommen. Janet hatte weder vorgehabt, Charlotte einzuladen, noch hatte sie eine Zusage erwartet, hatte, wie es ihre Art war, angenommen, dass glückliche junge Leute sowieso anderes vorhätten, als ihr barmherzigerweise bei einem Abendessen Gesellschaft zu leisten.
    Aber Charlotte hatte so niedergeschlagen, so verloren und allein auf dem Bürgersteig gestanden, so mühsam versucht, den Schlüssel in das Schloss ihres Autos zu manövrieren, dass Janet spontan reagiert, Charlotte gedankenlos einfach zum Abendessen eingeladen hatte. Und Charlotte hatte angenommen. Und nicht nur Charlotte. Auch noch Gabriel! Ein Mann, dem sie nie begegnet war und dessen Anwesenheit sie zwangsläufig zu einem Nervenbündel machen musste. Immerhin war sie die Gesellschaft von Männern schon acht Jahre nicht mehr gewohnt. So lange war Nigel jetzt tot, gestorben an einer besonders aggressiven Art von Darmkrebs.
    Die Ehe von Janet und Nigel war kinderlos geblieben. Sie hatten es versucht, natürlich, aber es hatte ein Problem gegeben, und seltsamerweise hatte keiner von beiden das Bedürfnis gehabt, diesem weiter auf den Grund zu gehen. Heute, in der gegenwärtigen Zeit, dachte Janet, hätten sie vermutlich etliche zwecklose IVF-Behandlungen über sich ergehen lassen. Aber damals hatte es diese Option nicht gegeben. Sie hatten ihre Kinderlosigkeit bedauert, sich jedoch gleichzeitig gesagt, wenn etwas nicht sein sollte, dann sollte man der Natur nicht ins Handwerk pfuschen. Sie hatten einmal kurz über eine Adoption gesprochen. Dabei war Janet klar geworden, dass Nigel, sonst ein liebevoller, sanftmütiger Mann, entschieden davor zurückschreckte, das Kind anderer Leute großzuziehen. Und schließlich war sie zu dem Schluss gelangt, dass ihnen ihre Zweisamkeit genügte: Es war ein liebevolles, zufriedenes Leben, geprägt von

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