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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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gegenseitigem Respekt und Zuneigung, gestärkt durch eine tiefe Liebe, für die Worte zu finden keiner von ihnen je die Notwendigkeit gesehen hatte.
    Als Nigel starb, war Janet selbst nicht darauf gefasst gewesen, wie intensiv und nahezu körperlich sie den Verlust empfand. Zwei Wochen lang verließ sie das Haus nicht. Sie konnte nicht schlafen, verbrachte die Nächte damit, durch die Flure zu wandern, als könne sie die Leere, die Trauer dadurch verscheuchen, indem sie rastlos in Bewegung blieb. Sie wusch sich nicht, zog sich nicht an, aß kaum etwas, so dass die Lebensmittel allmählich verdarben und weggeworfen werden mussten. Als nichts mehr zu essen da war, trank sie sich durch den Alkoholvorrat, den sie über die Jahre in mehreren Schränken angesammelt hatten. Sie hatte sogar halbherzig versucht, sich mit einem Küchenmesser umzubringen, jedoch festgestellt, dass sie zu feige war, die Sache konsequent zu Ende zu bringen.
    Dann, nach zwei Wochen, hatte Janet Hunger verspürt. Es war die erste körperliche Regung seit Langem, und sie war für dieses einfache Bedürfnis dankbar, das sie eher zu handeln als nachzudenken zwang.
    Also hatte sie sich angezogen, war einkaufen gegangen und stolz darauf, seit jenem Tag keinen Rückfall mehr erlitten zu haben. Sie hatte einen Zeh in den dunklen Abgrund getaucht, und das war genug. Ihr Optimismus kehrte zurück. Sie erlangte ihr gutmütiges, freundliches Wesen wieder, im Einklang mit der Welt. Für die anderen wurde aus Janet wieder Janet. Nur in ihren einsamsten Momenten gestattete sie es sich, an den Rand des Abgrunds zu treten und in das kalte, schroffe Nichts zu blicken, das verborgen in ihr schlummerte, um dann entsetzt über die eigene Schändlichkeit zurückzuschrecken. Niemand würde es je erfahren, niemand in der liebenswerten, harmlosen Janet diese Abgründe vermuten.
    Janet hatte dieselben Abgründe in Anne erkannt, schon bei ihrer ersten Begegnung auf dem jährlichen Weihnachtskonzert, das Janet in all seiner freundlichen, unkomplizierten und festlichen Atmosphäre stets aufgeheitert hatte. Anne hatte in diesem Umfeld beinahe entrückt gewirkt, wie eine durchscheinende Dunstwolke in einem Raum von bunter Gegenständlichkeit. Janet hatte sie spontan und ohne lange Überlegung ins Herz geschlossen. Erst später, als sie Charles kennengelernt hatte, hatte vieles einen Sinn ergeben.
    Janet hatte Charles nie gemocht, auch wenn sie objektiv betrachtet verstehen konnte, weshalb so viele Frauen ihn charmant fanden. Bei Janet allerdings stieß er umgehend auf Misstrauen. Er war ihr zu glatt und gleichzeitig nicht zu durchschauen, was Janet als verstörend empfand. Nie wurde sie aus ihm schlau, nie gelang es ihr, ihn einem Charaktertyp zuzuordnen. Er war ein starker Mann, seiner Macht bewusst, und hatte zweifellos Ausstrahlung. Dennoch schien er sich ständig der jeweiligen Umgebung entsprechend anzupassen, sich stets so zu verhalten, wie man es von ihm erwartete, ohne je sein wahres Ich zu zeigen.
    Janet wusste, dass sie Charles ein Rätsel war. Sie gehörte zu den wenigen Frauen, die er nicht für sich einnehmen oder beherrschen konnte. Auf diese Weise war sie so etwas wie eine Herausforderung für ihn geworden, so dass er sich stets über die Gebühr bemühte, ihr zu gefallen, sie durch Schmeicheleien gefügig zu machen, sie durch schöne Worte zu der kritiklosen Bewunderung zu zwingen, die er von Frauen gewohnt war. Erfolg hatte er bei Janet dennoch nie, teils, weil sie ihn für das verabscheute, was er Anne angetan hatte – immerhin hatte er ihr alle Lebensfreude genommen und sie mit ihrer Bitterkeit allein gelassen – und teils, weil sie gelegentlich die Fratze des Bösen an ihm erkannte, die er so sorgfältig zu verbergen suchte. Jedes Mal war es nur ein kurzer Augenblick gewesen – sein Mund, der sich vor unterdrückter Wut verzerrte, wenn Anne zu laut mit dem Geschirr klapperte, oder seine Augen, die kurz glitzerten, wenn er einen Witz gemacht hatte, um dann wieder einen leeren, völlig emotionslosen Ausdruck anzunehmen. Diese Anzeichen waren leicht zu übersehen, doch Janet war eine geübte Beobachterin. Sie wusste, dass ihre unscheinbare Erscheinung und ihr ruhiges Naturell ihr den Vorteil verschafften zu beobachten, ohne beobachtet zu werden.
    »Unsere Janet! Die stets so stille und doch so aufmerksame Janet«, hatte Charles sie einmal charakterisiert, als sie sich bei den Trenemans begegnet waren. Janet hatte Giles Treneman auf einem Flohmarkt der

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