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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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habe mich aufgegeben. Ich habe meine Kraft und Energie verloren, meinen Sinn für das, was normal ist. Ich konnte nichts recht machen, also habe ich erst gar nicht mehr versucht, etwas zu tun. Ich weiß, dass du am meisten dafür gebüßt hast. Aber ich hatte Angst und war völlig hilflos, weil ich ihn nicht verlassen wollte, was ich mir selbst nicht erklären kann. Ich kann nicht erklären, warum ich ihn immer noch liebe.«
    »Das musst du auch nicht«, sagte Charlotte ruhig. »Er hat Macht über uns. Und das wird immer so bleiben. Wir wollen unbedingt, ohne Rücksicht au f Verluste, von ihm geliebt werden.« Sie machte eine Pause. »Oder zumindest wollten wir das.«
    Anne sah auf.
    »Wie meinst du das?«
    »Ich meine, dass er keine Bedrohung mehr für uns ist. Er kann nichts mehr tun. Er kann uns weder Liebe geben noch sie verweigern. Ich vermisse ihn nicht mehr. Es hat lange gedauert, aber das ist vorbei. Ich habe Gabriel.«
    »Wirklich?«, fragte Anne, als könne sie es nicht recht glauben. »Mir ist entgangen, dass deine Gefühle für ihn so stark sind.«
    »Ich weiß. Daran hast du auch keinen Zweifel gelassen.«
    Anne hob Charlottes Hand hoch und presste sie gegen ihre Wange, atmete den Duft ihres Parfüms ein, das nach Feigen und Sommerblumen und dem betörenden Aroma von Thymian roch. »Aber nur, weil ich mir Sorgen um dich gemacht habe. Nur, weil ich nicht wollte, dass dir dasselbe widerfährt wie mir.«
    Charlotte entzog ihr ihre Hand, sanft, so dass es nicht wie eine Zurückweisung wirkte. Sie verschränkte die Arme auf dem Tisch und schlug die Augen nieder, fixierte das abgewetzte Muster des Linoleumbelags auf dem Fußboden.
    »Weißt du«, sagte sie schließlich. »Du hättest mit mir darüber reden müssen. Über jenen Tag, meine ich.«
    Anne biss so fest au f ihre Unterlippe, dass sie den metallischen Geschmack von Blut auf ihrer Zunge spürte. Ihre Tränen waren versiegt. Sie wischte mit den Fingern den Rest Feuchtigkeit unter den Augen ab.
    »Ja, das hätte ich tun müssen«, gab sie nach kurzer Pause mit fester Stimme zu. »Ich fürchte, ich habe es aus rein egoistischen Gründen nicht getan. Ich wollte so tun, als sei es nicht geschehen. Ich wollte weitermachen wie immer und es ignorieren, und ich dachte, wir alle könnten das.«
    »Aber hast du dir denn keine Sorgen um mich gemacht?« Charlotte versagte beinahe die Stimme. »Hast du nie daran gedacht, ich könnte … verletzt worden sein?«
    »Nein.« Dieses kategorische Nein überraschte sie beide. »Ich habe gewusst, dass er nie zu weit gehen, keine Grenze überschreiten würde«, erklärte Anne. »Er war zu gerissen. Und er hat dich zu sehr geliebt. Das war Teil des Problems, verstehst du? Zwischen ihm und mir, meine ich.«
    Anne wartete ab, ließ den Gedanken wirken. »Und danach hat er sich gebessert«, fuhr sie schließlich fort. »Er ist milder geworden. Besonnener, rücksichtsvoller. Er hatte weniger Affären. Und dir gegenüber hat er so etwas nie wieder getan, oder?«
    »Nein.«
    »Ich habe ihm gesagt, wenn es noch einmal vorkommt, verlasse ich ihn und nehme dich mit. Den Gedanken konnte er nicht ertragen.«
    »Dich zu verlieren, meinst du?«
    »Nein«, widersprach Anne und sah ihrer Tochter in die leuchtend blauen Augen. »Dich zu verlieren.«

Charles
    E r hatte das Gefühl, weinen zu müssen. Da war dieser Schatten, den er nicht recht zu deuten wusste, eine schwarze samtige wirbelnde Masse, die sich entfaltete, sich ausbreitete, wie Tinte in einem Glas Wasser. Er versuchte, sie mit den Händen zu greifen, stellte jedoch fest, dass er seine Arme nicht bewegen konnte. Sie war wunderschön, diese schwarze Masse. Sie schien ihn zu locken, tauchte vor seinen Augen plötzlich ab und wieder auf, kam näher, fast so nah, dass er sie hätte fühlen können, bevor sie ihm mit den weichen, schwungvollen und exakten Bewegungen einer Kalligrafie wieder entglitt.
    Wenn er nur den Arm ausstrecken und sie berühren könnte … wenn er nur die Kraft besäße, danach zu greifen, ihre samtige Konsistenz in seinen Händen zu spüren, die kostbare Wärme zu fühlen, diese schwarze Flüssigkeit durch seine Finger rinnen zu lassen, wie zähen Schlick.
    Er wollte sich einhüllen in diese schwarze Masse. Wenn er sie nur erreichen, sich in ihr verlieren könnte, es würde ihm gleich viel besser gehen, das wusste er. Er wusste, sie war die Antwort auf eine Frage, die er längst vergessen hatte.
    Er streckte und reckte sich, mobilisierte all seine Kraft, aber

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