Scherbenherz - Roman
seine Arme bewegten sich noch immer nicht. Und die faszinierende Gestalt mit der magnetischen Anziehungskraft entschwand allmählich aus seinem Blickfeld, verlor an Schärfe und Konsistenz und löste sich in Tausende nachtblaue Bildpunkte auf.
Hoffnungslosigkeit erfasste ihn, er war den Tränen nahe, hatte jede Zuversicht verloren, sie dicht in seiner Nähe halten zu können. Er fühlte Tränen aufsteigen, aber weinen konnte er nicht. Dafür konnte er seine Trauer hören. Sie klang wie ein misstönender Akkord in Moll, wie das ansteigend dissonante Konzert eines Orchesters beim Stimmen der Instrumente.
Dann tauchte die schwarze Masse wieder auf, und er war so beglückt, dass er seine Traurigkeit schon beinahe vergessen hatte. Er dachte, wie seltsam es doch sei, dieses Auf und Ab der Emotionen, die Sprünge von einem Extrem zum anderen, wo er doch gewöhnlich seine Gefühle so fest im Griff hatte. Die schwarze Masse kam näher, immer näher, verwandelte sich aus einer wolkigen Ansammlung von Bildpunkten in eine Gestalt, nahm eine Form an, mit vier Beinen und einem wedelnden Schwanz, zwei dreieckigen Ohren, wie die Klappen eines Briefumschlags, und mit einem Mal erkannte er seinen Hund Scooty. Es war Scooty!
Die Erleichterung über das Erkennen war grenzenlos, trug ihn wie auf einer Woge mit sich. Plötzlich konnte er seine Arme bewegen, seinen Hund an die Brust drücken, das Gesicht in seinem Fell verbergen, das nach Wiesenkerbel und an der Sonne getrocknetem Flusswasser roch.
Und dann rie f ihn die Mutter ins Haus zum Essen, und er konnte ihre Stimme hören, schrill und unmelodisch, ohne die Worte eindeutig zu verstehen. Der Hund lief fröhlich vor ihm her, über die Felder, seine Pfoten platschten durch schlammige Pfützen. Er hechelte und die rosarote Zunge hing aus seinem Maul, eine dünne Schweißschicht bedeckte sein Fell und glänzte in der ersten Abenddämmerung. Er rannte dem Hund hinterher, versuchte Scootys immer kleiner werdende Gestalt einzuholen, und merkte, dass er allmählich das ungetrübte Glücksgefühl verlor, das ihn noch Sekunden zuvor erfüllt hatte. Seine Brust zog sich zusammen wie geschmolzenes Metall, das man zu schnell abgekühlt hatte. Der Druck in seiner Brust wurde immer unerträglicher.
Seine Beine bewegten sich langsamer, obwohl er verzweifelt versuchte, wieder schneller zu werden. Die Beine versagten dem Gehirn den Dienst. Panik erfasste ihn. Er wollte innehalten, sich nicht mehr bewegen, zurückgleiten in das sanfte Nichts der Normalität seines Alltags, doch seine Beine wollten nicht, wie er wollte. Stattdessen kämpfte er sich entsetzlich mühsam vorwärts, und als er an sich hinuntersah, entdeckte er, dass seine Gummistiefel mit Steinen gefüllt waren und schwerer Schlamm bei jedem Schritt hinausschwappte. Dabei entleerten sich die Stiefel jedoch nie vollständig, gleichgültig, wie weit er lief.
Nach mehreren Stunden gelangte er offenbar endlich an sein Ziel, eine Eingangstür, ohne dazugehöriges Haus, ein einfacher Türrahmen, der sich ins Nichts öffnete. Seine Mutter rief ihn noch immer. Er stieß die Tür auf und sah sie. Sie stand ihm zugewandt, eine blau gestreifte Schürze um die Hüften. Ihre Hände hielt sie hinter dem Rücken. Ihr blondes Haar war frisch onduliert, ihr Gesicht sorgfältig geschminkt. Ihre vollen roten Lippen waren zu einem fratzenhaften Lächeln verzerrt, die Augen traten, wie immer, wenn sie wütend war, aus den Höhlen. Sie war viel, sehr viel größer als er, und ihr Gardemaß war einschüchternd. Er versuchte, sich zu ducken, sich so klein wie möglich zu machen, so unsichtbar, wie er nur konnte, doch ihre Züge waren vor Wut verzerrt, die Augen blutunterlaufen, und er wusste, dass es kein Entrinnen gab.
»Dein verdammter Hund hat überall Dreckspuren auf meinem sauberen Küchenboden hinterlassen«, begann sie in dem sanften Ton, der immer ein schlechtes Zeichen war, zwar harmlos klang, aber einen falschen Unterton hatte. Er sah die Ader an ihrer Schläfe im Rhythmus ihrer Wut pochen.
Sie machte zwei Schritte auf ihn zu, zwei riesige Schritte, mit denen sie die gesamte Küchenfläche überquerte, und dann erst sah er, weshalb sie seit seiner Ankunft die Hände auf dem Rücken verborgen gehalten hatte. Sie schwenkte eine schwere Eisenpfanne in einer Hand, hielt den Stiel mit ihren Fingern so fest umklammert, dass ihre Fingernägel weißlich rosa unterlaufen waren. Blitzschnell, zu schnell für ihn, als dass er schützend die Arme über den
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