Scherbenherz - Roman
Verachtung zu erkennen. Stattdessen sah Charlotte sie nur gelassen an und der Ausdruck in ihren Augen verriet beinahe so etwas wie Milde.
»Es tut mir wirklich schrecklich leid«, wiederholte sie, diesmal lauter, obwohl ihr Mund ganz trocken war. Anne fühlte einen feuchten Film auf ihrer Haut. Sie nahm eine dünne Papierserviette aus dem Serviettenhalter auf dem Tisch und tupfte die Schweißperlen von den Wangen. Die Serviette fühlte sich steif und kratzig auf ihrer Haut an. Als sie ihre Hand sinken ließ, sah sie, dass ein Rest Make-up einen braunen Schmierfleck auf dem weißen Untergrund hinterlassen hatte.
Charlotte sagte noch immer kein Wort. Ihr Schweigen schien sowohl ein Vorwurf zu sein als auch die Gelegenheit für Buße zu bieten.
Anne dachte zurück an jenen Tag, dachte zurück durch all die Verwirrung, erinnerte sich an die Andeutungen, das nie offen ausgesprochene Entsetzen, das damit einhergegangen war, sie dachte an Charles und wie sehr sie ihn geliebt hatte, wie sie unverständlicherweise nicht einmal dann hatte aufhören können, nachdem er sich als Monster entlarvt hatte. Sie dachte daran, wie viel sie hatte verzeihen können, dachte an den Schock, den schrecklichen lähmenden Schock dieses einzelnen Augenblicks.
Sie dachte daran, wie sie sich abgewandt hatte und die Straße entlanggegangen war, weg von dem Auto, weg von den Tränen ihres Kindes und der seltsamen perversen Macht ihres Mannes, und es machte sie krank, was sie getan hatte. Sie fühlte die Schuld; eine intensive, schmerzliche, komprimierte Schuld, eine Schuld, die sich unerbittlich in ihr Herz bohrte.
Sie hatte Angst. Angst davor, was Charlotte von ihr dachte, und am meisten hatte sie Angst vor dem, was sie getan hatte. Angst, ihre eigene schreckliche Verantwortung zugeben zu müssen, für den Fall, dass sie die Last nicht mehr ertragen konnte; für den Fall, dass sie damit nicht länger leben konnte, nicht mit dem Wissen um ihre eigene Schuldhaftigkeit. Es erschreckte sie, wie gründlich sie sich davon überzeugt hatte, das Richtige zu tun, dass sie all diese Jahre mit dem schönen Schein hatte leben können, der zum Ersatz für Gefühle geworden war. Sie fürchtete sich vor dem, was aus ihr geworden war: eine leere Hülle der verlorenen Illusionen.
Sie wusste, dass sie zu einer Person geworden war, die bitter, gemein und gefühllos, sogar grausam sein konnte. Aber sie wusste ebenso gut, dass all dies die Konsequenz des Bedürfnisses war, ihre Familie, trotz aller Verwerfungen, und vor allem ihre Tochter zu schützen. Sie wollte sicherstellen, dass diese nie denselben Fehler machen würde. Charlotte würde sich nie an einen gewalttätigen Mann verschwenden. Sie würde nie in den Sog eines Machtmenschen geraten, sich nie durch ihn definieren.
Es war alles aus Liebe geschehen. Alles.
Und wie sollte sie das alles hier, in diesem Kaffee, inmitten der polnischen Bauarbeiter und dem Fettdunst der zahllosen Portionen von Eiern mit Speck, Bohnen und Würstchen erklären?
»Weiter. Sprich weiter«, sagte Charlotte, streckte den Arm aus und ergriff über den Tisch hinweg Annes Hand. Anne fühlte, wie die Tränen über ihr Gesicht rannen.
»Es tut mir unendlich leid, dass ich dir nicht geholfen habe«, fuhr sie fort und schnappte zwischen lautlosem ersticktem Schluchzen immer wieder nach Luft. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie das letzte Mal so öffentlich und hemmungslos geweint hatte. »Es tut mir so leid, Charlotte. Ich habe getan, was ich für das Beste hielt, und ich weiß, es klingt so schäbig. Aber wie schrecklich musst du dich gefühlt haben, als ich einfach weggegangen bin, weg von dem Auto … damals, aber …« Die Stimme versagte ihr. »Ich bin kein besonders guter Mensch, musst du wissen. Und bestimmt von Natur aus keine gute Mutter. Ich dachte, ich könnte es werden, dachte, ein Kind zu haben, würde mich ausfüllen und glücklich machen. Ich dachte, damit könnte alles andere gut werden, es könnte mich und Charles wieder enger zusammenbringen. Es ist ein Klischee, ich weiß. Aber so ist es nun mal gewesen. Das waren meine Gedanken.«
»Und es ist nicht so gekommen?«
»Nein«, antwortete Anne und putzte sich die Nase. »Aber ich habe dich so sehr geliebt, Charlotte. Vom Tag deiner Geburt an. Das musst du mir glauben.« Sie war f ihrer Tochter einen verzweifelten Blick zu.
»Das tue ich«, gestand Charlotte leise. »Wirklich.«
»Es ist nur … ein normales Zusammenleben mit ihm war nicht möglich. Ich
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