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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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wahrgenommen. Aber Anne registrierte auch Charlottes kleinste Bewegung. Es war ihre Art, das Fehlen liebevoller Gesten und Worte zu kompensieren. Zumindest verstand sie es, Charlotte zu deuten. Sie wusste in ihr zu lesen wie ein Sammler, der seine Schmetterlinge begutachtete: wunderschöne, in Vitrinen aufgespießte Wesen, die Flügel ausgebreitet, die komplizierten Muster deutlich sichtbar. Und indem Anne ihre Tochter auf diese Weise erforschte, sie jede Nuance von Licht und Schatten an ihr zu deuten wusste, jedes Zucken und Zittern zuordnen konnte, auch das geringste Geräusch wie einen unfreiwilligen Seufzer wahrnahm, kam sie ihr so nahe wie möglich. Mehr wagte sie nicht. Sie musterte Charlotte aus sicherer Entfernung.
    Anne fürchtete, ihre Tochter so sehr zu lieben, dass ein Eingeständnis dieser Liebe das schwierige Gleichgewicht ihrer Beziehung zerstören könnte. Sie wusste, dass ihre Gefühle von Schuldgefühlen belastet waren, dass sie meinte, keine gute Mutter gewesen zu sein. Darüber empfand sie eine tiefe, nie gezeigte geheime Scham, die sie innerlich wie ein bösartiges Tier mit Zähnen und Klauen verzehrte. Und Charlotte zu zeigen, wie viel sie ihr bedeutete, ehrlich die Unvollkommenheit ihrer Zuneigung einzugestehen, würde nur ihr Versagen offenbaren. Allein der Gedanke daran jagte Anne Angst ein.
    Sie wussten beide, worin die Ursache dieser Schuldgefühle lag. Und Charles, als er noch gesund und bei Bewusstsein gewesen war, hatte es ebenfalls gewusst. Nur hatte keiner je ein Wort darüber verloren. Stattdessen herrschte zwischen ihnen ein Bermudadreieck des Schweigens, ein filigranes Konstrukt aus Wissen und Verdrängen, das so brüchig war wie gesponnener karamellisierter Zucker.
    Charlotte zog einen Krankenhausstuhl an das Bett ihres Vaters und setzte sich. Sie war ihm so nahe, dass sie ihn hätte berühren können. Stattdessen beobachtete Anne, wie sie unmerklich auf Distanz ging, sich in sich zurückzog, seine Hand nicht ergriff.
    Charlottes Haar umrahmte ihr Gesicht in wallenden dunkelbraunen Strähnen, die weder glatt noch so richtig schön lockig waren. Anne wusste, wie sehr sich ihre Tochter über ihr widerspenstiges Haar ärgerte. Sie benutzte jeden Morgen diese schrecklichen Haarglätter, mit denen man sich das Haar fast verbrannte. Und gelegentlich entdeckte Anne auch ein Brandmal an Charlottes Haaransatz, ein schmaler geröteter Streifen, der sonst niemandem auffiel. Trotz der Prozedur mit dem Haarglätter war Charlottes Haar am Ende des Tages wieder kraus. Anne mochte es, im Gegensatz zu ihrer Tochter, natürlich so viel lieber.
    Charlotte war ausgesprochen hübsch, was Anne ihr allerdings nie gesagt hatte. Aber Anne wusste es sehr wohl. Außenstehende hatten es ihr objektiv bestätigt, nachdem sie Fotos von Charlotte gesehen oder sie persönlich kennengelernt hatten. Ihr Gesicht war oval, die Haut weich mit einigen wenigen Sommersprossen auf dem Nasenrücken. Ihre großen, leuchtend blauen Augen blickten meist skeptisch drein. Sie hatte zierliche, wohlgeformte, mit weichem Flaum bedeckte Ohrläppchen, die zu berühren sich Anne versagte. An diesem Tag trug sie Ohrringe, die wie Birkenrindenstücke aussahen: silbrig-braune Halbmonde, die beim Reden leicht in Bewegung gerieten.
    Charlotte sprach mit leiser, deutlicher Stimme auf ihren Vater ein. Die Ärzte hatten ihnen gesagt, dass Ansprache positive Auswirkungen auf Charles’ Zustand habe und eine Genesung beschleunigen könne. Anne allerdings empfand es als gekünstelt, das einseitige Gespräch als peinlich, das zwangsläufig fast ausschließlich aus den geläufigen Plattitüden des Small Talks bestand, den Charles stets gehasst hatte. Während Anne auf die zögernde, gezwungen heitere Stimme ihrer Tochter hörte, erkannte Anne, dass sich auch Charlotte dessen bewusst war. Es war nie einfach oder unkompliziert gewesen, mit Charles zu reden. Jetzt erschien es geradezu absurd.
    Anne konzentrierte sich auf das, was Charlotte eigentlich sagte, wie sie von einer Urlaubsreise erzählte, die sie gerade mit ihrem Liebhaber unternommen hatte, einem Mann, der weder Annes Sympathie noch ihr Vertrauen genoss.
    »… dann sind wir zu diesem zauberhaften Bergdorf gewandert. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis wir oben waren. Der Weg war unglaublich steil.« Charlotte verstummte und schenkte sich aus dem Plastikkrug auf dem Nachttisch ein Glas Wasser ein. Sie runzelte die Stirn, überlegte offenbar, wie sie fortfahren sollte, und zwang sich dann,

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