Scherbenherz - Roman
bevor sie weitersprach, zu einem Lächeln. Anne fragte sich, was der Grund sein könnte, und stellte fest, dass Charlottes Worte mit einem Mal heiter klangen, bei jedem Satz ein Lächeln ihren Mund umspielte, sie eine Fröhlichkeit an den Tag legte, die zuvor nicht da gewesen war.
»Als wir schließlich ankamen, waren wir beide völlig fertig und verschwitzt. Wir haben uns als Erstes einen Tisch im Freien in diesem Café am Platz gesucht und eine citron pressé getrunken und die Aussicht genossen. Dieser Teil Frankreichs ist wirklich zauberhaft – komischerweise gar nicht touristisch, vermutlich, weil er nicht an der Küste liegt, aber …«
»Wo ist das gewesen?«, erkundigte sich Anne etwas zu laut.
Charlotte sah auf, überrascht und verwirrt durch die unerwartete Unterbrechung. »In der Region Tarn.« Sie hielt inne. Anne wartete. Die Stille wurde bedrückend. »Ich kannte die Gegend überhaupt nicht«, fuhr sie schließlich fort. »Später hat sich herausgestellt, dass Claudia – du er-innerst dich doch an Claudia? Na ja, ihre Eltern haben ganz in der Nähe ein Haus. Aber das habe ich erst nach meiner Rückkehr erfahren. Sonst hätten wir mal vorbeigeschaut.«
»Was macht eigentlich Claudia?«
»Sie arbeitet bei einer Bank. Hat was mit Hedgefonds zu tun. Ich habe es nicht ganz begriffen.«
»Sie ist ein ganz reizendes Mädchen gewesen. Sehr höflich. Und die reizenden Briefe, die sie geschrieben hat, um sich zu bedanken, wenn sie bei uns gewesen ist.«
»Ja«, sagte Charlotte. Anne erkannte postwendend an der kleinen Falte zwischen den Augenbrauen ihrer Tochter, dass sie vermutete, einem für sie ungünstigen Vergleich unter-zogen zu werden.
»Na ja. Dein Job ist sicher viel interessanter.«
»Mm-mm.«
So plätscherte die Unterhaltung dahin, stockend und verlegen und irgendwie unwirklich, so als läsen sie beide aus einem schlechten Drehbuch vor, ohne zu wissen, wie man dem Abhilfe schaffen könne. Und im Mittelpunkt dieser Szene war Charles, der glorreich wie eine Statue über dem Grab eines mittelalterlichen Königs thronte; unbeweglich und doch sehr präsent, der hören konnte, aber nicht zuhörte, ihr Ehemann, Charlottes Vater, und doch keiner von beiden. Nicht wirklich. Nicht jetzt.
Später, als sie sich draußen vor dem Eingang des Krankenhauses unbeholfen voneinander verabschiedeten, beugte sich Anne vor und streifte die Wange ihrer Tochter mit einem flüchtigen Kuss. Sie atmete kurz den Feigenduft von Charlottes Lieblingsparfüm ein, sog ihn tief in sich ein und behielt ihn einen Moment wie etwas Wertvolles und Zerbrechliches in der Magengrube.
»Also«, sagte Charlotte, trat zurück, rückte den Lederriemen ihrer Umhängetasche zurecht, der ihr ständig von der Schulter rutschte. Ihr Lächeln war gequält, fast verlegen. »Bis dann!«
Sie wandte sich ab und ging in Richtung Parkplatz davon. Ihre silbrigen, an Birkenrinde erinnernden Ohrringe schwangen dabei hin und her. Anne sah ihr nach, wie sie sich hinter das Steuer setzte. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke durch die Windschutzscheibe, und beide schienen überrascht über diesen unverhofften Augenblick gegenseitiger Wahrnehmung. Charlotte hob lächelnd die Hand. Anne nickte knapper als beabsichtigt.
Anne wählte den Weg über die Hauptverkehrsstraßen zurück nach Kew, vorbei an den Läden mit gebratenen Hühnchen, den Sari-Geschäften und den Touristenschlangen vor dem London Dungeon und der Southwark Cathedral, über die zahllosen Ampeln, die stets auf Rot schalteten, sobald sie sich näherte. Über die Nebenstraßen wäre sie schneller vorwärtsgekommen, doch sie sehnte sich nach dem grellen Licht der Leuchtreklamen, nach Lärm und der chaotischen Betriebsamkeit der Stadt. Nach der bedrückenden Atmosphäre in Charles Krankenzimmer empfand sie es als beruhigend, dass draußen, außerhalb der Klinik, der ganz normale Wahnsinn weiterging, alles so blieb wie immer.
Ihr Handy klingelte, und das Display leuchtete gespenstisch auf. Es war Janet. »Ausgerechnet!«, entfuhr es Anne laut, während sie versuchte, mit einer Hand am Steuer die Freisprechanlage einzustöpseln. »Janet?«
»Hallo, Anne? Wollte nur wissen, wie’s heute im Krankenhaus war.«
Typisch Janet. Sie schaffte es, stets im falschen Moment anzurufen, den falschen, besorgten Ton anzuschlagen – jene Bekümmertheit an den Tag zu legen, die ausführliche Erklärungen mit halbwegs überzeugend vorgetragenen Emotionen forderte. Gespräche mit Janet hinterließen bei
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