Scherbenherz - Roman
Anne stets einen Rest Unbehagen, das Gefühl, dem hohen Anspruch ihres Gutmenschenseins nicht ausreichend entsprochen zu haben. Es war unmöglich, auf Janets unerschütterliche Nettigkeit nicht gereizt zu reagieren, doch im selben Moment schämte man sich dafür. All das machte Gespräche mit Janet erschöpfend und kraftraubend.
Janet und Anne waren sich vor Jahren auf dem Weihnachtskonzert der örtlichen Heilsarmee begegnet; ein Ereignis, an dem Anne mit trauriger Regelmäßigkeit teilnahm, um der Welt zu zeigen, dass sie ein aufrechtes und engagiertes Mitglied der Gesellschaft war, eine familienorientierte Mutter und Ehefrau, Spendensammlerin für unterschiedliche Wohlfahrtsprojekte sowie obendrein eine eifrige Anhängerin der Antiques Roadshow . Eine Zeitlang hatte sie geglaubt, allein so zu tun, als habe ihr Leben einen Sinn, könne diesem einen Sinn geben, so als wäre diese Schauspielerei schon der halbe Weg zum Ziel.
Charles hatte sie nie zu Veranstaltungen der Heilsarmee begleitet. Er war Atheist und lehnte jede Art religiösen Gepränges grundsätzlich ab. Etwas, das sie erleichtert akzeptiert hatte. Immerhin bot es Anne die Möglichkeit, sich nach außen hin als andere Person zu präsentieren: als patente Frau, die zum Wohl der Allgemeinheit Kuchen backte und Flohmärkte organisierte. Diese Rolle gab ihr Sicherheit. Sie sang mit Leib und Seele anrührende Weihnachtslieder und spendete großzügig bei der Kollekte. Sie liebte Weihnachten und stellte fest, dass jahreszeitliche Festlichkeiten die perfekte Gelegenheit boten, anonym bleiben zu können, ohne sich ausgeschlossen zu fühlen. Fremde Menschen begegneten ihr dabei mit einem Lächeln, nahmen Blickkontakt mit ihr auf, ohne dass sie sich in Gespräche verwickeln lassen musste. Und sie konnte wieder verschwinden, bevor der Glühwein ausgeschenkt wurde.
So war es allerdings nur, bevor sie Janet kennenlernte. Bei irgendeiner dieser Weihnachtsfeiern war plötzlich Janet aufgetaucht, eingehüllt in handgestrickte Schultertücher, umgeben von einer Aura immerwährender Fröhlichkeit und bewaffnet mit Tupperware-Behältern voller Hackfleischpastetchen. Sie ging geradewegs auf Anne zu, sobald sie entdeckte, dass diese sich auf Französisch verabschieden wollte.
»Kann ich Sie wirklich nicht verleiten, zuzugreifen?«, fragte Janet mit strahlendem Lächeln. Anne sah sie an, erkannte im wässrigen Blick dieser Augen die Bereitschaft, Gefühle zu zeigen, registrierte den grell orangeroten Lippenstift, der in die feinen Fältchen um Janets zuckenden Lippen auszufließen begann. Sie empfand Mitleid, fühlte den kurzen Schmerz ungewohnter Empathie, hatte den Eindruck, dass auch Janet jemand war, der darum kämpfte, dazuzugehören, verzweifelt versuchte, einen Platz in dieser Gemeinschaft der Gutmenschen zu finden.
»Ich wollte eigentlich gerade gehen.«
»Ach, tun Sie das bitte nicht!«, säuselte Janet heiter. »Eine kleine Hackfleischpastete kann nicht schaden. Ich habe sie erst heute Vormittag gebacken. Greifen Sie zu, solange der Vorrat reicht.«
Also hatte Anne eine Pastete genommen, den Mürbeteig beim Essen über ihren Mantel gebröselt, und Janet war so bemitleidenswert dankbar gewesen, dass Anne weitaus länger als beabsichtigt geblieben war, gefangen im Kraftfeld von Janets peinlich notorischem Frohsinn.
Die Freundschaft hatte in den Folgejahren viele Auf und Abs erlebt, einem alten, klapprigen Auto ähnlich, das verzweifelt versuchte, bergauf Geschwindigkeit aufzunehmen. Doch jedes Mal, wenn diese Freundschaft endgültig zu scheitern drohte, verfiel Janet wieder auf einen neuen Trick, sie neu zu beleben: mit Freikarten für die Chelsea Flower Show, einem Kuchenrezept, das sie unbedingt an jemandem ausprobieren wollte, einem Vortrag über Darwins Evolutionstheorie im National History Museum. Oder sie schleppte Anne zu dem neuen Käseladen, der gleich um die Ecke aufgemacht und angeblich den köstlichsten Pecorino im Angebot hatte. Und Anne hatte jedes Mal kapituliert, teils aus Faulheit, teils weil sie trotz allem Janets Gesellschaft als seltsam wohltuend empfand. Sie musste in Janets Gegenwart nie angestrengt Konversation machen, konnte deren gut gelaunte Monologe einfach über sich ergehen lassen, lächeln und nicken, wo es angebracht war. Janet war, so vermutete Anne, ihre einzige echte Freundin.
Einmal, aber nur ein einziges Mal, hatte Janet sie über einen Tisch im Café angestarrt und aus heiterem Himmel gesagt: »Du hörst mir nie wirklich zu,
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