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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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stimmt’s?« Anne hatte lahm protestiert und war beschämt, als sich Janets Augen mit Tränen füllten. Da ihr nichts Vernünftiges einfiel, schwieg sie. Nach einer Weile versiegten die Tränen, und Janet schlug die Hände vors Gesicht. »Entschuldige! Ist ja lächerlich! Ich weiß auch nicht, was heute mit mir los ist.« Damit war die Sache erledigt.
    An diesem Freitag hätten sie eigentlich zu einem »Damenwochenende« nach Paris aufbrechen sollen, wie Janet es genannt hatte, als sie die Eurostar-Tickets gebucht hatten. Jetzt musste die Reise storniert werden. Janet nahm dies ostentativ gelassen hin, so als wollte sie wieder einmal beweisen, dass nichts und niemand sie so leicht erschüttern konnten. Sie hatte darauf bestanden, sich um den nötigen Papierkram zu kümmern, damit sie das Geld für die Tickets zurückerstattet bekamen, und hatte außerdem das Hotel angerufen, um die beiden Einzelzimmer mit Dusche und WC abzubestellen. Natürlich hatte sie Anne lang und breit erzählt, welche Mühen sie auf sich genommen hatte, und mit einer Penetranz Annes Dankbarkeit eingefordert, die an einen Hund erinnerte, der seinem Herrn ein Stöckchen apportierte. Anne wusste, dass Janet vor allem jemanden brauchte, der ihr versicherte, wie selbstlos, wie großartig sie sich in Krisensituationen verhielt; dass sie ihr gestand, ohne ihre Freundin völlig hilflos gewesen zu sein. Und genau diese Gier nach Aufmerksamkeit animierte Anne stets in einem Anfall von Bosheit, sich diesem Spiel zu verweigern.
    Sie wusste, es war grausam, war über sich selbst und ihre Gemeinheit erschrocken, konnte jedoch nicht über ihren Schatten springen. Bis zu einem gewissen Grad gab die Freundschaft mit Janet Anne die Möglichkeit, ihren Frust loszuwerden. Denn Janet war die einzige Person, bei der sie die Oberhand, die Kontrolle behielt. Und genau das war aus einem unerfindlichen Grund für sie wichtig.
    »Du klingst müde«, sagte Janet am anderen Ende des Telefons. »Hattest du einen sehr anstrengenden Tag?«
    »Nein, nein«, wehrte Anne ab. »Nichts dergleichen.« In diesem Moment trat der Fahrer des Minivans vor ihr unverhofft kräftig auf die Bremse. »Verdammter Idiot!«
    »Anne? Alles in Ordnung?«
    »Ja. War nur ein Autofahrer, der offenbar den Führerschein im Lotto gewonnen hat.«
    Janet kicherte am anderen Ende. »Gibt’s was Neues von den Ärzten?«
    »Nein, immer dasselbe. Sie wollen sich nicht festlegen. Könnte ja sein, dass ich sie sonst verklage. Außerdem muss erst die Schwellung im Gehirn zurückgehen, bevor sie eine Prognose abgeben können.«
    »Eine Prognose? Wofür?«
    »Ob das … Gehirn … na, du weißt schon … irreversibel geschädigt ist.«
    Am anderen Ende der Leitung hörte man, wie Janet übertrieben dramatisch nach Luft schnappte.
    »Die Ärzte sind der Meinung, er wäre vermutlich ungeschoren davongekommen, wenn er seinen Fahrradhelm aufgehabt hätte. Ich hab ihm immer wieder gesagt, er soll ihn aufsetzen«, schloss Anne und merkte sofort, wie unsinnig die Bemerkung klingen musste.
    »Wissen Sie denn jetzt mehr darüber, was eigentlich passiert ist?«
    »Nein. Es gibt keine Zeugen. Sagt die Polizei. Was ich kaum glauben kann. Aber Fahrradfahrer waren für die noch nie wichtig. Die Ärzte meinen, Charles sei von einem vorbeifahrenden Auto erfasst und vom Fahrrad geschleudert worden. Er hatte noch Glück, dass er auf der Straße gelandet ist. Hätte der Wagen ihn frontal gerammt, wäre er gleich tot gewesen. So liegt er … eben im Koma.«
    »Großer Gott, Anne! Wie schrecklich!«
    »Tja, aber damit müssen wir nun fertigwerden«, erklärte Anne hörbar gereizt. »Aber vielleicht wacht er ja morgen auf und alles ist wieder in Ordnung.« Anne stellte fest, dass der Gedanke kaum die zu erwartenden positiven Gefühle bei ihr auslöste.
    »Ich finde, du bist wirklich stark. Wie ein Fels in der Brandung. Ganz ehrlich!«
    Anne schwieg einen Moment zu lange.
    »Und mach dir wegen Paris keine Sorgen. Wir haben die Reise mehr als achtundviezig Stunden im Voraus storniert. Das Hotel hat uns die Vorauszahlung erstattet … wozu ich allerdings all meine Überredungskunst aufbringen musste, kann ich dir sagen. Mein Schulfranzösisch ist auch nicht mehr das, was es mal war.«
    Janets Lachen klang gequält.
    »Wie dem auch sei, Anne. Ich lass dich jetzt lieber in Ruhe. Du musst dich aufs Fahren konzentrieren. Hast du Charlotte im Krankenhaus getroffen?«
    »Ja. Sie ist nach Büroschluss gekommen. Aber natürlich viel zu

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