Scherbenherz - Roman
spät.«
»Oh … na ja. Ist doch nett, dass sie sich überhaupt die Mühe gemacht hat.«
»Mmm«, kommentierte Anne reserviert. »Scheint so, als hätte sie mit diesem Mann einen schönen Urlaub in Frankreich verbracht. Aber sie erzählt mir ja nie was.«
»Tja, also … Ist eine schwierige Situation, findest du nicht, Anne?« Janet räusperte sich. Es klang, als habe sie vor, sich aufs Glatteis zu begeben. »Vielleicht hat sie Angst, dass du damit nicht einverstanden bist.«
»Ich bin mit ihm nicht einverstanden. Herrgott, der Mann ist verheiratet.«
»Ich dachte, getrennt?«
»Möglich, dass er getrennt ist. Aber soviel ich weiß nicht geschieden.«
»Also, Anne! So was braucht Zeit.«
»Woher willst du das denn wissen?«
Es entstand eine kurze, beleidigte Pause.
»Entschuldige, Janet. Ich bin im Augenblick mit den Nerven am Ende.«
»Natürlich«, antwortete Janet gepresst. »Pass gut auf dich auf, Anne. Ich ruf morgen wieder an.«
»Danke. Bye!«
»Bye!«
Janet legte auf, und Anne saß minutenlang unbeweglich da, die Hände am Steuer, und starrte auf den Verkehrsstau, der sich vor ihr gebildet hatte. Schließlich schaltete sie das Radio ein und drehte die Lautstärke so auf, dass ihre Ohren schmerzten.
Anne; Charles
A lso wurden Anne und Charles ein Paar, zwangsläufig und ohne dass einer von beiden das groß infrage gestellt hätte. Anne hatte nie zuvor mit einem Mann geschlafen, hatte nicht einmal einen Freund gehabt und war stets erstaunt gewesen, wenn ein Mann sexuelles Interesse an ihr gezeigt hatte. Nie war es ihr in den Sinn gekommen, dass ihre Freundlichkeit zu Missverständnissen führen könnte. Jedenfalls kam es zu etlichen unangenehmen Gesprächen, als die Nachricht von ihrem Verhältnis mit Charles im College die Runde machte.
»Ehrlich gesagt dachte ich, dass du mich magst«, erklärte ein scheuer, enttäuschter Student aus dem zweiten Semester namens Fred. Anne war perplex.
»Fred, wir sind doch nur Freunde«, entgegnete sie kopfschüttelnd. Sie verstand die Welt nicht mehr. »Können wir denn nicht einfach gute Freunde bleiben?«
Anne begriff nicht, warum der Umgang mit Männern plötzlich unter anderen Vorzeichen stand, sich mit einem Mal ein falscher, gezwungener Ton einschlich. Charles lachte sie aus, als sie es ihm erzählte.
»Ist dir wirklich nicht klar, welche Wirkung du auf Männer hast?«
»Aber ich war doch einfach nur nett«, protestierte sie lahm.
»Das ist ja das Problem«, entgegnete er. »Du bist zu nett. Und das wird leicht missverstanden.«
Die ersten Wochen mit Charles hielten ein Kaleidoskop an neuen gemeinsamen Erfahrungen bereit: Küsse und Händchenhalten, bedeutungsvolle Blicke über Restauranttische, Rosensträuße und süße Krapfen zum Nachmittagstee; das Nebeneinander in Vorlesungen und leises Gekicher über einen nur ihnen verständlichen Scherz. Sex, als es dazu kam, entpuppte sich als angenehm. Zwar war es nicht der alles verändernde Paukenschlag, den sich Anne immer erträumt hatte. Dafür aber auch nicht das Desaster hektischer, linkischer Unerfahrenheit. Es blieb auf die fleischliche Vereinigung reduziert, ein kurzer Austausch von Körperflüssigkeiten, ein Blick aus halbgeschlossenen Lidern und dann, für wenige Momente, ein Gefühl von Zärtlichkeit, weil man eine Nähe erreicht hatte, von der der Rest der Welt ausgeschlossen war. Charles jedenfalls hatte es offenbar mehr genossen als sie. Vorausgesetzt, »Genuss« hatte damit etwas zu tun. Er schien die Sache als eine Art notwendige Pflichtübung zu betrachten, die so gut wie möglich erledigt werden musste; ohne Rücksicht darauf, welche Lust man der Partnerin bereitete.
Dennoch verschaffte es Anne das Gefühl, Zugang zu einer aufregenden Erwachsenenwelt erlangt zu haben, die bisher nur in vagen Andeutungen existiert hatte. Sie nahm an, dass Sex bei anderen nach demselben Muster verlief: als schnelle und routinierte Vereinigung unter der Bettdecke. Sie stellte Charles Verhalten nie infrage, denn ganz offensichtlich war er der wesentlich Erfahrenere. Er wusste, was zu tun war. Also überließ sie ihm die Regie.
Als Ersatz für das Ausbleiben lustvoller Leidenschaft begann Anne, eine hingebungsvolle Faszination für die Linien und Wölbungen von Charles’ Körper zu entwickeln: für seine weichen, fleischigen Ohrläppchen, die überraschend kitzligen Kniekehlen, die hervortretenden purpurnen Venenstränge entlang seiner Unterarme. Sie liebte es, ihn morgens wachzuküssen. Dabei glitt
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