Scherbenherz - Roman
ihr Mund von seiner Stirn über die durchscheinende Haut seiner Augenlider, bis sich ihre Lippen trafen und sie seinen scharfen Atem auf ihrer Zunge spürte.
»Guten Morgen«, sagte er dann und schlug träge die blauen Augen auf.
Frieda stand der aufkeimenden Beziehung skeptisch und übellaunig gegenüber. »Du bist nur noch bei ihm«, warf sie Anne eines Abends in der Mensa vor. »Ich sehe dich kaum noch.«
Anne wusste darauf weder eine Antwort noch hatte sie Lust, darüber nachzudenken. Es stimmte, dass sie so viel Zeit wie möglich mit Charles verbrachte und nur ins New-ham College zurückkehrte, wenn dies unvermeidbar war, wo sie dann glücklich und ermattet ins Bett fiel. Sie verstand Friedas Vorbehalte nicht, ihre ständigen, versteckt geäußerten mahnenden Bedenken. In Annes bisherigem Leben hatte es nichts gegeben, das sie veranlasst haben könnte, das Glück infrage zu stellen: Es war einfach da, und sie nahm es hin, ohne sich Sorgen zu machen oder tiefschürfende Analysen anzustellen. Später sollte sie auf diese junge Anne zurückblicken und sich wundern, wie arglos, wie unfassbar arrogant sie gewesen war; wie sie einfach annehmen konnte, Zufriedenheit sei eine Gabe, die jeder besitze. Ihr ganzes Leben lang war sie behütet gewesen. Von ihren Eltern, ihren Privilegien, ihrer Intelligenz und ihrer Schönheit.
Auch wenn Anne vorgab, nie einen Gedanken daran zu verschwenden, wusste sie, dass sie ausgesprochen attraktiv war. Sie wusste es und hatte doch keine Ahnung, wie sie diese Eigenschaft einsetzen, wie sie sie benutzen konnte, um zu bekommen, was sie wollte, geschweige denn, sie bewusst in Charme umsetzen konnte. Mit neunzehn war Anne eine Kindfrau. Ihre Weltgewandtheit war Fassade. Sie war unreif, ein naives junges Mädchen mit dem Aussehen einer schönen Frau, und außerstande zu erkennen, über welche verhängnisvolle Macht sie damit verfügte. Sie fand sich in kritischen Situationen wieder, die sie nicht einzuschätzen wusste – mit Fred, mit zahllosen anderen Männern, die das Gefühl hatten, sie führe sie mit ihren harmlos gemeinten Flirts an der Nase herum. Außerdem fehlte ihr der Mut, diese Schwäche einzugestehen. Als sie endlich so weit war, musste sie feststellen, dass sie in der Falle saß, nicht mehr in der Lage war, etwas zu ändern.
Zu Beginn ihrer Beziehung mit Charles ignorierte sie jeden Anflug von Bedenken, verdrängte diese leichtfertig an den Rand ihres Bewusstseins, aus Angst, sich lächerlich zu machen. Sie verbrachte ihre Tage in der Bibliothek der Fakultät für Geschichte, saß wie unter einer Dunstglocke über zahllosen Büchern. Nachts schmuggelte sie Charles gelegentlich in ihr Zimmer, wo sie eng aneinandergedrängt in dem wackeligen Bett die Nacht verbrachten, seine Füße kaum von der Bettdecke bedeckt.
Einmal war sie beim ersten Sonnenschein aufgewacht, der durch einen Schlitz im Vorhang fiel, und merkte, dass Charles nicht mehr neben ihr lag. Sie warf sich den Morgenrock über und schlich auf Zehenspitzen über die nackten Holzbohlen, öffnete die Tür nur einen Spaltbreit, damit der Hausmeister nicht entdeckte, dass sie unerlaubterweise einen männlichen Gast eingeschmuggelt hatte. Sie spähte in den Flur hinaus. Charles war nirgends zu sehen. Dann hörte sie gedämpft sein polterndes Lachen. Es kam aus Friedas Zimmer. Sie klopfte an, hörte hastige Geräusche und Friedas brüskes »Pst«. Dann wurde die Tür geöffnet.
»Anne«, sagte Frieda mit ausdrucksloser Miene. Sie trug eine über der Brust eng zugeknöpfte Kaschmir-Strickjacke über ihrem Seidennachthemd. Das Haar, glatt und dunkel, fiel schwer auf ihre Schultern. Ihr kantiges, hageres Gesicht war dezent gepudert, ihre Lippen trotz der frühen Morgenstunde rot geschminkt und leicht verschmiert. »Komm rein.« Anne fühlte sich in ihrem dicken blauen Pyjama und mit zerzaustem, ungekämmtem Haar augenblicklich deplatziert.
Charles saß in Straßenkleidung auf dem Fußende von Friedas Bett, einen Becher Kaffee in der Hand. Eine nachtblaue indische, rot bestickte Überdecke war kunstvoll über das Bett drapiert. »Hallo, du«, sagte er mit vertrautem, leicht verlegenem Grinsen. Die Sonne stand hinter ihm, so dass sich im Gegenlicht seine Silhouette deutlich vor dem Fenster abhob. »Frieda hat mir einen Becher von ihrem türkischen Kaffee angeboten. Da konnte ich nicht widerstehen.«
»Möchtest du auch eine Tasse?«, erkundigte sich Frieda mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Hm, nein, danke«, erwiderte
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