Scherbenherz - Roman
Anne und setzte sich neben Charles auf die schmale Bettkante. Er rührte sich nicht, machte ihr nicht Platz. »Ich glaube, ich versuche, gleich noch ein bisschen weiterzuschlafen.«
Frieda lachte. »Ist mir ein ewiges Rätsel, wie man so lange schlafen kann wie du, Anne. Ich liebe den frühen Morgen. Die frische Luft. Ich fühle ich mich dann viel lebendiger.« Sie nahm ihr langes Haar und steckte es vor dem kleinen Spiegel an der Tür im Nacken hoch. »Den Tod am Morgen kann ich mir einfach nicht vorstellen.«
Anne verdrehte unmerklich die Augen. Frieda war stets unnötig dramatisch, so unerbittlich pessimistisch und ernst. Anne schrieb das ihrer ungewöhnlichen Erziehung zu. Ihr Vater war Diplomat, und Frieda daher in stets wechselnden fernen Ländern aufgewachsen, hatte nie länger an einem Ort gelebt. Ein einziges Mal hatte sie in einem seltenen Moment der Selbsterkenntnis gegenüber Anne zugegeben, dass sie sich deshalb schwertue, dauerhafte Freundschaften zu schließen.
»Ich weiß genau, was du meinst«, behauptete Charles. Anne starrte ihn unverhohlen überrascht an. Er hasst die frühen Morgenstunden, dachte sie. Er konnte problemlos den ganzen Tag im Bett verbringen, Zeitung lesen und Toastbrote essen. Sie sagte jedoch kein Wort.
Es entstand eine leicht bedrückende Stille. Im Raum schien es plötzlich eng geworden zu sein, so als werde die Luft knapp, angesichts einer sich schleichend ausbreitenden Verlegenheit. Anne sah Charles von der Seite an. Er starrte unverwandt gerade aus, den Blick auf Friedas bloßen Nacken geheftet, und trank gelassen schluckweise seinen Kaffee.
»Na, gut. Dann gehe ich jetzt wieder ins Bett«, erklärte sie in dem verzweifelten Versuch, das ausgedehnte Schweigen endlich zu brechen. Sie stand auf und streckte den Arm nach Charles aus.
»Charles?«
Er sah zu ihr auf. »Ja?«
»Kommst du?«
Er lächelte, die Andeutung von Herablassung im Blick. »Ich bleibe eigentlich lieber hier und trinke das hier aus«, erwiderte er und hob seinen Kaffeebecher hoch. »Wenn du nichts dagegen hast«, fügte er hinzu, und Anne hatte das Gefühl, er mache sich über sie lustig.
»Ganz und gar nicht.« Sie zog ihren blauen Flanellgürtel enger um die Taille, ging hinaus und machte die Tür zu, hinter der leises Stimmengemurmel zu hören war.
Etwas später, nachdem sie unruhig in ihrem Bett vor sich hin gedöst hatte, kam Charles und kuschelte sich an sie. Er legte den Arm um ihre Taille und streichelte sanft ihre Hüfte. »Hallo«, flüsterte er, zog sie enger an sich. Anne lächelte stumm in dem Gefühl, übertrieben empfindlich gewesen zu sein. Wahrscheinlich war sie noch nicht ganz wach gewesen. Sie atmete tief ein. Nichts, worüber sie sich Sorgen machen musste.
»Hallo.«
Alles war wieder im Lot, zumindest für eine Weile.
Charlotte
C harlotte war im Büro, als ihre Mutter anrief.
»Charlotte?«
»Ja«, meldete sie sich und versuchte, die Stimme zu dämpfen, damit ihre Kollegen nicht merkten, dass sie ein Privatgespräch führte. »Was gibt’s?«
»Nichts Wichtiges. Ich wollte nur kurz deine Stimme hören, falls du nicht allzu beschäftigt bist.«
Charlotte biss die Zähne zusammen. Unwillkürlich begann sie, sich an einer Stelle hinter den Ohrläppchen zu kratzen. Die Hartnäckigkeit, mit der ihre Mutter sie immer wieder im Büro anrief, machte sie wütend. Sie hatte sie wiederholt gebeten, es zu unterlassen. Sie arbeitete in einem Großraumbüro und wusste, dass jeder ihre leisen Antworten auf Annes übliche Tirade hörte: über all ihre kleinen Alltagsbeschwerden – Handwerker, die nicht erschienen waren, Unkraut, das gejätet werden musste, eine Waschmittelmarke, die der Supermarkt aus unerfindlichen Gründen aus dem Sortiment genommen hatte, und so weiter. Wenn Anne sie auf dem Handy anrief, konnte sie zumindest die Nummer erkennen und den Anruf wegdrücken. Am Telefon im Büro gab es kein Entrinnen.
»Ich arbeite gerade an einem wichtigen Text«, erklärte Charlotte im Flüsterton. Auf der anderen Seite des Großraumbüros mühte sich die notorisch neugierige Sekretärin Sasha wie ein Erdmännchen auf der Suche nach Futter, über die Trennwand zu sehen. Charlotte schwang auf ihrem Drehstuhl herum und wandte ihr den Rücken zu.
»Natürlich. Entschuldige. Ich möchte nicht stören.« Annes Stimme allerdings verriet das Gegenteil. Sie verfiel in den zeternden, leicht beleidigten Ton, der bei Charlotte prompt die üblichen Schuldgefühle auslöste. In Augenblicken wie
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