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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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ausgepolstert, um das Malheur zu vertuschen. Dann allerdings hatte Anne ihre Schmutzwäsche aus dem Korb genommen, um sie zu waschen, und ihr wortlos eine Packung Damenbinden aus dem Schrank am obersten Treppenabsatz in die Hand gedrückt, wo sie Kohletabletten und wasserfestes Pflaster aufbewahrte.
    »Hier, nimm die«, sagte Anne mit undurchsichtiger Miene. Charlotte nahm sie und fühlte, wie sie rot wurde. Sie war verlegen und zufrieden zugleich, endlich eine Frau zu sein, endlich etwas mit der eigenen Mutter gemeinsam zu haben.
    Die Grippe erschien ihr daher wie ein weiterer Punkt auf diesem Programm. Man muss Schmerzen ertragen, um erwachsen zu werden, dachte Charlotte insgeheim, während sie in der Abenddämmerung in ihrem Zimmer lag, es ihr gleichzeitig heiß und kalt war. Sie war erschöpft, doch das permanente Pochen in ihren Schläfen ließ sie nicht schlafen. Ihr Hals war trocken und kratzte. Das Licht der Nachttischlampe schien so hell, dass es schmerzte. Sie knipste es aus. Die kleine Anstrengung löste erneut Schwindelgefühle aus, so dass sie sich umgehend wieder auf ihr Kissen legte und die Augen schloss, damit sie nicht nachdenken musste.
    Sie hatte keinen Hunger. Aber sie musste etwas essen, nur damit ihre Mutter zufrieden war. Anne hatte sich früher am Abend zu einem ihrer vierzehntäglich stattfindenden Bridgeabende verabschiedet. Zuvor hatte sie die strikte Anweisung gegeben, Charlotte müsse versuchen, etwas zu sich zu nehmen … egal was … um bei Kräften zu bleiben.
    »Ist es in Ordnung, wenn ich gehe?«, hatte Anne gefragt und den Kopf durch die Tür gesteckt.
    »Ja«, krächzte Charlotte. »Geht mir schon ein bisschen besser.« Das war zwar nicht die ganze Wahrheit, aber Charlotte hielt das zumindest für eine erwachsene Antwort. Natürlich wäre es ihr lieber gewesen, wenn Anne geblieben wäre, doch sie sagte nichts, um nicht kindisch zu sein. Wenn man krank war, war Anne einfach kompetenter als Charles. Sie hatte den sechsten Sinn aller Mütter, wusste genau, was gebraucht wurde: zum Beispiel ein großes Glas Saftschorle, ein mit Lavendelduft getränktes Kissen, das den Schlaf förderte, oder selbst gekochte Gemüsebrühe mit Stücken beruhigend wirkender Pastinakenwurzel, die auf der Zunge zergingen. Außerdem stellte Charlotte fest, dass Kranksein bei Anne einen Beschützerinstinkt weckte, den diese normalerweise nicht an den Tag legte. Während der vergangenen Tage hatte ihre Mutter bereitwilliger körperlichen Kontakt mit ihr aufgenommen als sonst. Am liebsten fühlte Charlotte Annes kühle Hand, die ihr über die Stirn strich mit ihren leicht rauen Fingerkuppen und dem flüchtigen Duft von Spülmittel mit Zitronenaroma.
    Anne hatte in der Tür gestanden, ungewohnt liebevoll gelächelt, wobei sich ihre Stirn glättete, so dass sie im Zwielicht beinahe hübsch aussah.
    »Dein Vater ist hier und kann dir was zu essen machen. Versuch bitte, etwas zu dir zu nehmen.«
    »Ja, mach ich.«
    »Prima. Du bist die perfekte Patientin.« Anne winkte ihr kurz zu, wandte sich zum Gehen, und Charlotte war stolz und plötzlich auch sehr allein. Sie spürte so etwas wie Panik in der Magengrube und stützte sich auf den Ellbogen auf.
    »Bye, Mummy«, sagte sie so laut sie konnte, damit ihre Mutter sie noch hören konnte. Sie starrte auf die geschlossene Schlafzimmertür und wünschte sich beinahe, Anne würde umkehren.
    Stattdessen hörte Charlotte ihre Schritte auf der Treppe leiser werden, dann einen gedämpften Wortwechsel mit dem Vater unten in der Küche und das Aufheulen eines Automotors. Dann war sie fort.
    Sie sagte, sie habe Lust au f Toast zum Abendessen.
    »Sonst nichts?« fragte Charles. »Sicher?«
    Charlotte nickte.
    »Na gut. Eine Runde Toast. Kommt sofort. Was willst du drauf?«
    »Nur Butter, bitte.«
    Dann allerdings, nach einigen Minuten Geschirrgeklapper aus der Küche, zog ein unverkennbar scharfer Rauchgeruch in den ersten Stock. Charlotte wusste sofort, dass Charles es tatsächlich geschafft hatte, den Toast anbrennen zu lassen. Und das, obwohl die Einstellung des Toasters nie verändert wurde. Sie hörte ihn etwas rufen, was wie ein Fluch klang. Ihre Schultermuskeln verkrampften sich. Sie schlug die Hände vor den Mund, begann zu beten und zu bitten, Charles möge an diesem Abend doch keine schlechte Laune haben.
    »Bitte, lieber Gott, mach, dass er sich beruhigt«, flüsterte sie. »Bitte lass ihn nicht böse werden. Bitte beschütze ihn und mach ihn zu einem besseren Menschen,

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