Scherbenherz - Roman
und hoffte, er würde es nicht merken. Sie wartete, dass Charles aus dem Zimmer und wieder hinuntergehen würde. Normalerweise verbrachte er den frühen Abend mit der Lektüre der Tageszeitungen in seinem Arbeitszimmer, wo Charlotte ihn nicht stören durfte.
Stattdessen zog er einen zierlichen Stuhl mit Samtpolster vom Schreibtisch ans Bett. Er setzte sich, obwohl die Sitzgelegenheit viel zu klein für ihn war und er seine langen Gliedmaßen irgendwie ordnen musste wie ein großes Insekt, so dass seine Knie die Bettkante berührten. Seine körperliche Nähe war Charlotte unangenehm und sie schämte sich dafür. Es war schließlich gut gemeint.
Dennoch hatte sie plötzlich einen Kloß im Hals, wollte in seiner Gegenwart nicht essen.
»Willst du nichts essen?«, erkundigte sich Charles.
»Doch, doch. Sieht gut aus.« Charlotte griff nach einem labbrigen Toast und nahm einen winzigen Bissen. Sie kaute lange daran.
Charles starrte sie unverwandt an. Seine wasserblauen Augen schienen sie zu durchbohren wie heiße Nadelstiche. Sie strich etwas Marmelade auf die zweite Scheibe, wobei sie die bitteren, dicken Orangenschalenstücke sorgfältig aussortierte und im Glas ließ. Dann biss sie hinein. Die Süße zerging angenehm auf ihrer Zunge. Schließlich hatte sie die Hälfte der Toastbrote gegessen und die Tasse Tee getrunken. Das Glas Wasser stellte sie »für später«, wie sie erklärte, auf den Nachttisch.
»Danke«, sagte sie erneut, hob die Augen und begegnete flüchtig Charles’ starrem Blick. »Das hat gutgetan.«
Er lächelte, und seine Mundwinkel zuckten. Noch immer sprach er kein Wort. Charlotte wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Unter der dünnen Baumwolle ihres T-Shirt-Nachthemds wurden ihre Arme allmählich kalt. Sie reichte Charles das Tablett in der Hoffnung, er würde wieder hinuntergehen. Stattdessen nahm er ihr das Tablett ab und stellte es auf den Teppichboden. Als er sich wieder aufrichtete, strich seine Hand über ihren Arm.
»Du bist ja eiskalt«, bemerkte er, der Schatten eines Lächelns noch immer auf den Lippen. Er ließ seine Hand auf ihrem Arm. Seine Finger umschlossen ihren Oberarm, und sie fühlte den Druck seines Daumens auf der empfindlichen Haut unterhalb ihrer Achselhöhle.
Er will nur nett sein, dachte sie und versuchte ihr wachsendes Unbehagen zu unterdrücken. Sie versuchte zu lachen, um die Atmosphäre zu entspannen, brachte jedoch nur ein ersticktes Glucksen heraus.
»Hm. Oben friere ich und unten ist mir viel zu heiß.«
Es entstand eine Pause.
»Arme Kleine«, sagte er, und die Wortkombination war so seltsam, klang so untypisch zärtlich, dass Charlottes Herz erneut schneller schlug. Er war normalerweise nicht der Typ, der sich väterlich gab. Es klang falsch. Irgendwie bedrohlich.
»Verschaffen wir dir doch ein bisschen Kühlung.« Er beugte sich zu ihr, zog ihr die Decke weg und faltete sie am Fußende zusammen, so dass Charlotte unbedeckt auf dem Bett lag, ihre nackten Beine der Nachtluft preisgegeben. Sie sah auf ihre dünnen Fußgelenke herab, auf die Schürfwunde über dem hervorstehenden Knöchel, die sie sich auf dem Schulhof zugezogen hatte. Ihr fiel auf, dass sich ihr Nachthemd über die Oberschenkel hochgeschoben hatte, und zog es so weit wie möglich wieder in Richtung Knie. Auf der Vorderseite war ein überdimensionales Konterfei von Micky Maus gedruckt, das zu einem Zerrbild verrutschte, als sie mit beiden Händen am Saum zerrte. Sie schluckte und hörte verlegen, dass sie dabei ein lautes, ersticktes Geräusch machte. Charles sah sie noch immer unverwandt an, seine Silhouette bewegungslos und überdimensional. Sie fühlte sich neben ihm sehr klein; klein und unbedeutend.
Ohne Decke begann sie schließlich zu frösteln, wagte jedoch nichts zu sagen. Schließlich hatte er sich um ihr Wohlergehen bemüht. Aber sie wusste nicht recht, was in diesem Moment von ihr erwartet wurde. Sie begann, Selbstgespräche zu führen, und merkte nach einer Weile, dass sie betete. Es war nicht ihr übliches Gebet. »Bitte, lieber Gott, lass alles gut werden«, wiederholte sie stattdessen mantrahaft für sich und merkte, wie der Rhythmus der Wiederholungen sie allmählich einlullte.
Charles begann, mit den Händen über ihre Beine zu reiben. Zuerst fühlte sich die dadurch erzeugte Wärme gut an. Dann änderte sich die Art seiner Berührung kaum merklich. Es war kein Reiben mehr, um Wärme zu erzeugen, sondern ein Streicheln, ein Tasten, während er die knochige
Weitere Kostenlose Bücher