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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Silhouette ihrer Kniescheiben mit den Fingerkuppen erforschte. Charlotte zuckte unwillkürlich zurück. Charles sah zu ihr auf, und seine Augen schienen von einem durchscheinenden Film überzogen, so als gehe sein Blick durch sie hindurch, ohne sie noch wahrzunehmen.
    »Kitzelig?«, fragte er, die Stimme dickflüssig wie Sirup. Charlotte nickte, brachte kein Wort heraus. Ihr wurde schwindelig, sie hatte das Gefühl, weinen zu müssen, aber die Tränen blieben aus. Sie hatte keine Ahnung, was mit ihr geschah, was sie tun sollte, wusste nur, dass, was immer daraus werden sollte, sie sich erwachsen benehmen würde. Sie wollte auf keinen Fall kindisch reagieren. Sie war jetzt eine junge Frau, musste auch mit dem Unerwarteten fertigwerden. Möglicherweise gehörte es zum Erwachsenwerden. Leider war dieser Gedanke weniger tröstlich als erhofft. »Bitte, lieber Gott, lass alles gut werden.«
    Charles Finger glitten auf ihrem Schenkel höher und berührten die ausgeleierte Gummierung der Beinausschnitte ihres Slips. Er will nur nett sein, sagte sie sich. Seine Finger streichelten weiter, auf und ab, auf und ab, auf und ab. Er sah sie längst nicht mehr an. Mit gesenktem Kopf und vornüber hängenden Schultern über das Bett gebeugt schien er nur die Bewegungen seiner Hände im Blick zu haben. Er wirkte in sich vertieft und distanziert zugleich, so als beobachte er sich beim Klavierspiel, sähe seinen Fingern zu, wie sich diese geschmeidig über die Tasten bewegten.
    Und dann geschah mit Charlotte etwas Merkwürdiges. Das Zimmer um sie herum löste sich in Dunkelheit auf. Übrig blieben nur noch das Geräusch ihrer Atemzüge, das Schlagen ihres Herzens, die dichte Schwärze unter geschlossenen Lidern und Stille. Es war, als höre sie auf zu existieren, zu fühlen. Es war, als hätte sich ihr Innerstes vom Körper getrennt, wurde hochgehoben, schwebte zur höchsten, entlegensten Ecke des Zimmers, dorthin, wo nichts und niemand Schaden nehmen konnte. Sie dachte an die Szene bei Mary Poppins , wo sich die Protagonisten plötzlich hoch in der Luft wiederfanden und über den Möbeln schwebend eine Tasse Tee genossen, und musste unwillkürlich kichern.
    Von oben sah sie auf ihren Körper unten im Bett herab, erstaunt, wie klein sie zu sein schien, wie weit entfernt, wie machtlos. Ihre Arme lagen schlaff an den Seiten, ihr Kopf war in die Kissen gedrückt, die Augen starr zur Decke gerichtet. Charlotte blickte herab auf die leere Hülle ihrer selbst und war erleichtert, nicht länger dort unten sein zu müssen. Oben fühlte sie sich sicher.
    Sie konnte Charles’ Schädeldecke sehen. Sie sah seine Hände zärtlich über ihre Beine gleiten, von den Konturen ihrer Schenkel bis zu ihren Fersen. Ihr Nachthemd war bis über die Hüftknochen nach oben geschoben, das Bild von Micky Maus in unzähligen Falten zusammengeschrumpft. Sie lag da, verkrampft, starr, wesenlos.
    Da war wieder der Geruch von verbranntem Toast.
    In den darauffolgenden Tagen stellte Charlotte fest, dass sie sich nicht mehr genau daran erinnern konnte, was eigentlich geschehen war. Der Abend blieb ihr nur schemenhaft im Gedächtnis, vermischte sich mit der bruchstückhaften Erinnerung an ihr Kranksein. Er ging in Fieberträumen unter, versank in deren übersteigerter Wahrnehmung und nahm surreale Züge an. Die Bilder erschienen ihr wie in einem Zerrspiegel, schienen aufzubrechen wie aufgeschlagene Eierschalen.
    Am nächsten Morgen wachte sie auf, und ihre Mutter war wieder da. Ihr Vater war ins Büro gefahren. Als er am Abend zurückkam, war er kühl und reserviert wie immer, so als wäre nichts geschehen. Charlotte war sich ihrer Erinnerungen nicht mehr sicher. Und da sie nicht so recht wusste, was passiert war, konnte sie mit ihrer Mutter nicht darüber reden. Sie fürchtete, sich lächerlich zu machen.
    Als sie versuchte, für sich Klarheit in die Abfolge der Ereignisse zu bringen, konnte sie sich nicht mehr erklären, was an der Situation so furchteinflößend gewesen sein sollte. Sie hatte gefroren, und Charles hatte ihre Beine massiert, um sie zu wärmen. Aus dem direkten Zusammenhang gerissen konnte man darin eine vollkommen unschuldige, liebevolle Geste sehen. Trotzdem schien es nicht normal, nicht richtig gewesen zu sein: weder der Blick, mit dem er sie betrachtet hatte, noch der Eindruck, dass er nicht er selbst gewesen war.
    Aber vielleicht war auch jeglicher Körperkontakt mit ihrem Vater für sie so ungewohnt, dass sie unweigerlich davor zurückschreckte,

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