Scherbenherz - Roman
Feuchtigkeit. Die Druckerschwärze färbte ab und hinterließ schwarze Flecken au f ihren Fingerkuppen. Charlotte warf das Magazin ungeduldig zur Seite.
Sie streckte den Arm aus der Wanne, trocknete die Hände an einem in der Nähe hängenden Handtuch und griff nach dem Telefon. Charlotte telefonierte häufig in der Badewanne, eine Angewohnheit, bei der sie schon etliche Handys versenkt hatte, die ihr aus der Hand geglitten und in einem Strudel von Luftblasen im Wasser verschwunden waren. Die Angestellten ihres Handyanbieters kannten sie inzwischen mit Namen, so häufig war sie gezwungenermaßen auf ein anderes Produkt umgestiegen.
Keine SMS. Nichts. Sonderlich überrascht war sie nicht. Sie tippte Gabriels Nummer ein. Das Rufzeichen tönte laut in ihrer Ohrmuschel, hallte von den gefliesten Wänden wider. Es klingelte endlos. Schließlich schaltete sich sein Anrufbeantworter ein.
»Hallo, Sie sind mit …hm … Gabriel verbunden.«
Sie hasste seine Ansage. Das kurze Zögern wirkte immer so gewollt, so als wolle er der Welt mitteilen, dass er ständig abgelenkt werde, zu beschäftigt sei, den Anruf entgegenzunehmen. Charlotte legte auf. Dann wählte sie die Nummer erneut. Derselbe lang anhaltende Klingelton. Dieselbe Ansage. Sie legte auf. Dann rief sie erneut an. Wo zum Teufel trieb er sich herum?
Sie ging sämtliche Möglichkeiten im Geiste durch. Es war Viertel vor elf an einem Mittwochabend. Also noch keine Sperrstunde. Möglicherweise hatte er sich auf einen Drink mit Freunden in einer Kneipe verabredet. Aber mit welchen Freunden? Von einer Verabredung hatte er ihr nichts erzählt. Und wochentags trank Gabriel nie mehr als ein oder zwei Gläser Bier. Es sei denn, er amüsierte sich prächtig. Es sei denn, er achtete nicht auf die Zeit. Es sei denn, er war mit einer so amüsanten, interessanten Person zusammen, dass er nicht daran dachte, nach Hause zu fahren.
Sie steigerte sich immer mehr hinein. Was, wenn er mit einer anderen Frau zusammen war? Was, wenn er sich betrunken hatte? Wenn er dachte, Charlotte sei ihm böse, und aus Trotz mit einer anderen unterwegs war? Was, wenn er sich mit Florence getroffen und sie ihn überredet hatte, Charlotte den Laufpass zu geben und zu seiner Frau zurückzukehren? Was, wenn er in diesem Augenblick bei seiner Frau war und sie um Verzeihung bat? Was, wenn Charlotte megamäßig dumm und naiv gewesen war? Was, wenn sie jemandem vertraut hatte, der unter der glatten Fassade ein Schwindler und Betrüger war und all die Menschen – ihre Freunde, ihre Mutter – sie allesamt recht gehabt hatten, sie vor ihm zu warnen? Wie konnte sie ihnen je wieder unter die Augen treten?
Charlotte trank einen Schluck heiße Schokolade, versuchte sich zu beruhigen. Sie kannte den Gang ihrer Gedanken, wusste, wie übertrieben und realitätsfern sie sich im Kreis drehen konnte. Der einzige Ausweg aus diesem Teufelskreis war die Rückkehr zur Logik. Wenn sich Charlotte als Kind zu viele Sorgen gemacht hatte, wegen ihrer überreizten Nerven nicht schlafen konnte, hatte die Mutter ihr geraten, stets mit dem Schlimmsten zu rechnen, denn das würde je kaum eintreten. Das Schlimmste, so argumentierte sie, passiere immer unerwartet.
Charlotte versuchte, sich vergebens abzulenken. Warum konnte sie sich nicht wie eine normale entspannte Frau verhalten, die solche Dinge nicht erschüttern konnten? Warum war sie stets und automatisch misstrauisch, zog die pessimistischsten Schlüsse, innerlich zerfressen von der eigenen Unsicherheit? Warum war sie so schnell, so grundlos verunsichert? Gabriel liebte sie. Warum also sollte er riskieren, sie zu verlieren? Frage um Frage türmte sich wie ein unlösbares Puzzle vor ihr auf und zog sie immer tiefer in die Verzweiflung. Warum mühte er sich so beharrlich, sie von der Aufrichtigkeit seiner Liebe zu überzeugen, wenn es viel einfacher für ihn wäre, sich in bedeutungslose Affären zu stürzen?
Aber Charlotte wusste, wie unberechenbar Männer waren, wenn es um die Befriedigung ihrer Begierden, ihrer Wünsche ging. Wie sollte sie annehmen, dass Gabriel so etwas nicht machen würde, wo seine Vergangenheit doch das Gegenteil bewies? Weshalb sollte sie von einem Mann erwarten, monogam zu bleiben, wenn das einfach nicht in seinen Genen lag? Bücher, Fernsehfilme, die Tests in Illustrierten, durch die man erfahren konnte, ob der Partner untreu war, sprachen diese Sprache. Erst kürzlich hatte ein Boulevardblatt wieder einmal die Affären eines untreuen Prominenten
Weitere Kostenlose Bücher