Scherbenherz - Roman
loyal. Natürlich ist es komisch für sie, meiner neuen Freundin zu begegnen …«
»Aha? Ich bin also deine neue Freundin? Wie viele andere vor mir hat es denn schon gegeben?«
»Was soll das? Du solltest dich hören. Du weißt, dass ich dich liebe. Das weißt du ganz genau. Warum genügt dir das nicht?«
Gabriels wütende Liebeserklärung war entwaffnend. Charlotte hatte einen Kloß im Hals. »Warum nimmst du mich nie in Schutz?«, jammerte sie.
Sie hörte Gabriels resignierten Seufzer am anderen Ende. »Was verlangst du denn noch von mir? Ich habe dir gegenüber immer zu meinem Wort gestanden. In jeder Beziehung. Welche Beweise willst du denn noch?«
»Es geht nicht um Beweise.«
»Natürlich geht es darum, Charlotte. Du haust mir ständig meine Vergangenheit um die Ohren. Es ist eben passiert. So bedauerlich es auch sein mag, ich kann’s nicht mehr ändern. Ich fühle mich deswegen beschissen, aber damals kannte ich dich noch nicht und ich will mich deswegen nicht ständig entschuldigen. Offenbar gelingt es mir nicht, dich zu überzeugen. Das musst du schon selbst tun.«
Es war lange still in der Leitung. Nur das Tropfen des Wasserhahns war zu hören.
»Bist du in der Badewanne?«, fragte er schließlich. Seine Stimme klang freundlicher, normaler.
»Ja.« Charlotte wischte sich die Tränen ab, die ihr plötzlich übers Gesicht rollten. Sie hoffte, er hörte nicht, dass sie weinte. »Es tut mir leid«, flüsterte sie schließlich.
»Es muss dir nicht leidtun. Ich weiß, es ist schwierig. Besonders, weil im Augenblick so viel anderes auf dir lastet.«
»Tut mir leid, dass ich so nutzlos bin«, murmelte sie und merkte, wie selbstmitleidig das klang.
»Sweetheart, du bist alles andere als nutzlos. Ich wünschte nur, du hättest mehr Vertrauen in dich. In uns.«
»Ich habe Vertrauen in uns.«
»Aber vielleicht nicht genug. Nicht so viel wie ich.«
Sie hätte gern einen Witz gemacht, die Flucht in die Heiterkeit gesucht, um Gabriel zu versöhnen, ihn zum Lachen zu bringen, seine Liebe zurückzugewinnen. Aber ihr fiel nichts ein. Seine Worte blieben unbeantwortet.
»Ich vermisse dich, Charlotte.«
»Ich dich auch«, sagte sie völlig erschöpft. »Möchtest du zu mir kommen?« Seit Gabriel vor etlichen Monaten aus dem ehelichen Zuhause ausgezogen war, wohnte er bei einem Freund in Pimlico zur Untermiete. Sie waren stillschweigend übereinkommen, dass Charlotte dort nie über Nacht bleiben sollte. Gabriel hatte den Eindruck erweckt, als wäre es nicht schicklich – es könnte unangenehme Fragen aufwerfen.
»Nein, nette Idee. Aber ich bin fix und fertig. Ich fahre nach Hause und hau mich ins Bett.«
»Okay«, sagte sie und fügte wie beiläufig hinzu: »Wo bist du denn heute Abend gewesen?«
»Ich war mit Florence aus. Sie hat mich im Büro angerufen und gefragt, ob wir uns sehen könnten. Wir haben zusammen gegessen.«
»Wie geht es ihr?«, erkundigte sich Charlotte und verdrängte das aufkommende Misstrauen.
»Gut. Ziemlich gut sogar. Sie hat irgendeinen neuen Kerl.«
Charlotte grinste. »Na, großartig.«
Sie drehte mit dem Zeh den Heißwasserhahn auf, und Gabriel lachte, als er das Wasser platschen hörte. Sie fühlte sich wieder entspannt und voller Hoffnung, war gleichzeitig überzeugt, dass von nun an alles noch besser werden würde als zuvor. Sie schloss die Augen, hörte auf Gabriels Stimme und lächelte erleichtert. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle.
Charlotte
E rnsthaft krank war sie zuvor nie gewesen. Sie hatte in Büchern davon gelesen, über Fieberattacken und Schüttelfrost, die zarte Heldinnen und Gouvernanten befielen, nachdem sie zu lange und zu dünn bekleidet in der Kälte ausgeharrt hatten. Charlotte hatte nie Grippe gehabt, höchstens eine Erkältung und Schnupfen. Aber mit zwölf war es so weit. Die erste Erwachsenenkrankheit hatte sie erwischt.
Sie war trotz Schwindelgefühl und hohem Fieber seltsam stolz, so als erlebe sie ein wichtiges Inaugurationsritual. Wenige Monate zuvor hatte sie zum ersten Mal ihre Regel bekommen, zu ihrem Entsetzen, denn das einzige Mal, dass Anne vom »Frauwerden« gesprochen hatte, hatte Charlotte schockiert reagiert und so getan, als habe sie bereits alles durch ihre Schulkameradinnen erfahren. Als sie dann die ersten braunroten Flecken in ihrer Unterwäsche entdeckte, wusste sie nicht, was das bedeutete. Wie Blut sah es nicht aus. Daher hatte sie das Phänomen vorerst ignoriert, ihre Slips mit schichtweise Toilettenpapier
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