Scherbenherz - Roman
Anne schluckte sie trocken in einem Zug. Sie hatte sich so an diese Tabletten gewöhnt, dass sie kein Wasser mehr benötigte, um sie einzunehmen. Eine beruhigende Benommenheit stellte sich ein. Nach einigen Minuten hatte sie eine angenehme Taubheit erfasst, sich die Panikattacke wie ein Heliumballon gelöst, der frei zur Decke schwebte. Sie nahm an, dass sie den Tablettenkonsum als Schwangere von jetzt an einstellen musste. Bei dem Gedanken füllten sich ihre Augen mit Tränen, aber traurig war sie nicht.
Sie sprühte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Von unten drang das deutliche Geräusch eines Automotors herauf. Dann wurde der Motor abgestellt. Es kamen Schritte, der Schlüssel drehte sich im Haustürschloss, und sie hörte, wie ihr Mann seinen Mantel im Flur ablegte. Ich muss es ihm sagen, überlegte sie vage, ohne dass der Gedanke konkrete Formen angenommen hätte. Sie hatte keine Ahnung, wie er reagieren würde. Aus unerfindlichen Gründen kam ihr das plötzlich lustig vor, und sie begann zu lachen. Sie sah sich im Spiegel an. Eine Spur Wimperntusche rann über ihre Wange. Das verwunderte sie, bis sie erkannte, dass sie gleichzeitig lachte und weinte. Das wiederum fand sie sogar noch komischer, lachte erneut und konnte gar nicht aufhören zu lachen, bis Charles durch die Badezimmertür trat.
»Was machst du denn hier?«, fragte er, und seine Mundwinkel verzogen sich verächtlich.
Anne sah ihn an, und plötzlich erschien ihr alles ganz einfach. Sie hörte so abrupt auf zu lachen, wie sie begonnen hatte.
»Ich bin schwanger«, sagte sie. Sie griff nach der Rolle Toilettenpapier, um sich die Nase zu putzen, schätzte irgendwie die Entfernung falsch ein, griff ins Leere, geriet aus dem Gleichgewicht und sank auf die Knie.
»Wurde auch Zeit«, erklärte Charles. Er ging zu Anne, die noch immer wie ein Häufchen Elend auf dem Fußboden kauerte, riss mehrere Blätter Toilettenpapier von der Rolle und reichte ihr das ordentlich mehrlagig gefaltete Päckchen. »Mach dich sauber.«
Sie sah zu ihm auf. Seine Miene war vollkommen ausdruckslos, sein Gesicht ein unbeschriebenes Blatt. Anne wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie versuchte, mit einer Hand nach seinem Hosenbein zu greifen, doch er trat einen Schritt zurück, aus ihrer Reichweite. Dann drehte er sich um und ging aus dem Badezimmer.
Charlotte
J ener Tag.
Es waren mehrere Monaten vergangen, bevor annähernd Ähnliches wieder geschah. Und selbst dann war sich Charlotte nicht sicher, ob das, was mit ihr passierte, in Ordnung war oder verwerflich oder irgendetwas dazwischen.
Einmal hatte sie vor dem Sofa auf dem Fußboden gesessen und ferngesehen. Anne hatte oben im Badezimmer ein Bad genommen. Charles war hereingekommen. Anstatt jedoch zu seinem angestammten Platz im Sessel in der Zimmerecke zu gehen, hatte er sich auf das Sofa direkt hinter sie gesetzt und begonnen, mit den Fingern sanft ihren Nacken zu massieren.
Charlotte erstarrte. Sie schloss die Augen. Teils versuchte sie zu genießen, was sie für eine liebevolle Geste zwischen Vater und Tochter halten wollte, teils wünschte sie einfach, er würde aufhören.
Er sprach kein Wort, während er ihren Nacken knetete. Allmählich wurde der Druck seiner Finger immer stärker, bis sie ihn auf ihren Sehnen spürte. Mit einem Mal glitt eine Hand flink wie ein Schnappmesser in den Halsausschnitt ihres lose sitzenden Strickpullovers. Seine Finger kreisten um den Hof ihrer Brustwarze, zwickten den Nippel, als würde er an dem Lautstärkeknopf eines Radios herumfummeln. Es dauerte weniger als drei Sekunden. Kein Wort wurde gesprochen.
Ein andermal war er an einem Sonntagmorgen ohne anzuklopfen ins Badezimmer marschiert, während sie unter der Dusche stand. Sie zuckte zusammen, als sie seine Schritte hörte, doch er setzte sich nur auf den Wäschepuff, schlug die Beine übereinander und sah zu, wie sie sich die Haare wusch.
Gelegentlich kam er, wenn sie schon im Bett lag, um ihr Gute Nacht zu sagen, und Charlotte lernte, den Kopf im letzten Augenblick seitwärts wegzudrehen, damit sein Kuss auf ihrer Wange landete. Oder, wenn sie nicht schnell genug reagierte, neben ihrem Mundwinkel. Noch Stunden danach fühlte sie den Abdruck seines Speichels auf ihrer Haut, wie ein feuchtes Zeichen seiner Macht.
Und auch weiterhin sprach sie mit niemandem darüber, denn sie wusste nicht, ob es tatsächlich erwähnenswert war. Sie empfand ihren Mangel an Erfahrung als schmerzlich – sie war nicht alt genug, um
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