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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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entscheiden zu können, ob diese Dinge in einer Familie normal waren, wollte nicht riskieren, als kindisch und dumm dazustehen. Sie setzte alles daran, sich wie eine Erwachsene und nicht wie ein greinendes Baby zu benehmen. Außerdem war sie nicht in der Lage zu erklären, weshalb ihr das alles so unangenehm war. Es hatte keine für sie erkennbaren folgenschweren körperlichen Übergriffe gegeben, kein Überschreiten einer Grenze, die sie objektiv hätte erkennen und definitiv als »falsch« hätte bezeichnen können. Sie hatte sich in Charles Nähe stets unbehaglich gefühlt und angenommen, dass seine verstohlenen Annäherungsversuche und ihre Reaktion darauf schlicht eine Fortsetzung dieses Unbehagens waren. Und tief in ihrem Inneren wusste sie zumindest ansatzweise, dass sie durchaus im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit stehen wollte, was sie sich allerdings nur selten eingestand. Jedes Mal, wenn dieser Gedanke die Oberhand gewann, verdrängte sie ihn entsetzt, als könne sie sich daran verbrennen.
    In der Schule war Charlotte meistens eine Einzelgängerin. Es gab daher keine Freundinnen, mit denen sie sich hätte besprechen können. Zu Hause traf sie weder Verwandte noch andere männliche Erwachsene desselben Alters, deren Verhalten sie mit Charles hätte vergleichen können. Der Einzige, der für einen Vergleich infrage kam, war der Nachbar ihrer Eltern, Giles Treneman. Ihn allerdings erlebte sie vorwiegend am Ende einer Party, wenn er getrunken hatte und sich gegenüber sämtlichen Frauen als überaus anschmiegsam und liebebedürftig erwies. Also setzte Charles seine pseudo-väterlichen intimen Annäherungsversuche fort, wahllos und willkürlich, in Abständen von Wochen oder Monaten und im Allgemeinen immer dann, wenn Anne nicht zu Hause war.
    Beim letzten Mal allerdings war alles ganz anders.
    Eines Morgens hatte Charles sie zur Schule gefahren. Grund war ein Busfahrerstreik. Annes war bereits zu dem Secondhandladen vom Roten Kreuz in Kew aufgebrochen, wo sie als Freiwillige aushalf. Charlotte fühlte sich wie immer, wenn sie mit dem Vater allein war, nicht wohl in ihrer Haut, versuchte sich jedoch beim Frühstück abzulenken, kaute langsam ihr Müsli, schluckte jeden Bissen trotz leichter Übelkeit bedächtig hinunter. An diesem Tag stand ihr in der Schule ein Test in Naturwissenschaften bevor, vor dem ihr im Stillen graute.
    Charles saß ihr gegenüber am anderen Ende des Kiefernholztisches, das Gesicht komplett hinter einer Ausgabe des Daily Telegraph verborgen. Nur einige wenige Körperteile ragten über den Zeitungsrand hinaus, wie Verschnittstücke eines kubistischen Porträts: die gepflegten Halbmonde seiner Fingernägel, ein Teil der Schulter und ein deutlich schütterer werdender blonder Haarschopf. Gelegentlich räusperte er sich oder grummelte über etwas, das er las. Alle paar Minuten blätterte er um und faltete die Zeitung neu, wobei er laut mit dem Papier knisterte und einen Schluck Tee trank, bevor er sich wieder in die Tagesnachrichten vertiefte.
    Charlotte blickte nervös auf die Uhr über dem Herd. Es war bereits zehn nach acht. Sie würden zu spät kommen.
    »Daddy?«
    »Mhm.«
    »Wollen wir los?«, fragte sie leichthin.
    Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, merkte sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Er faltete die Zeitung zusammen, legte sie beiseite und sah sie starr an.
    »Wir haben noch massenhaft Zeit«, erklärte er und schenkte sich eine Tasse Tee ein. »Die Welt geht nicht unter, wenn du ein paar Minuten zu spät kommst.«
    Charlotte kaute auf ihrer Unterlippe. Vermutlich konnte es ihm gleichgültig sein, aber ihr machte es etwas aus, sehr viel sogar. Sie hasste es, zu spät zum Unterricht zu kommen, denn in diesem Fall verlangte ihre Klassenlehrerin, die humorlose Mrs. Dryburgh, einen triftigen Grund für die Verfehlung. Und an diesem Tag hätte Charlotte keine andere Ausrede als die Dickfelligkeit des Vaters gehabt.
    Charlotte blieb nichts anderes übrig, als auf ihrem Stuhl darauf zu warten, bis Charles mit quälender Langsamkeit sein Frühstück beendete und ins Badezimmer hinauflief, um sich die Zähne zu putzen und auf die Toilette zu gehen. Alles schien viel länger zu dauern als unbedingt nötig. Als Charles schließlich wieder herunterkam, war es zwanzig nach acht. Als sie endlich unterwegs waren, war es halb neun. Das allmorgendliche Sammeln der Schüler vor dem Unterricht fand um Viertel vor neun statt. Charlotte betete stumm darum, dass sie es noch rechtzeitig

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