Scherbenherz - Roman
sie uns Ihre Telefonnummer gegeben. Daher die Störung. Entschuldigen Sie.«
»Keine Ursache. Ich bin froh, dass Sie mich angerufen haben. Anne stand in ihrer Küche, presste den Telefonhörer ans Ohr und stellte fest, dass sich ihre Umgebung plötzlich seltsam verändert hatte, so als sähe sie alles durch eine viel zu starke Brille. Die geschwungene Silhouette des Herdes hatte eine gerade Form angenommen, der rote Fliesenboden glänzte übertrieben. Als sie aus dem Fenster in den Garten blickte, erschienen ihr die Farben zu lebhaft, die Formen unnatürlich klar umrissen. Sie fühlte sich losgelöst, so als stünde sie neben sich. Sie bewegte sich in Zeitlupe, die Luft war gesättigt von Gedanken und lag schwer auf ihrer Brust.
»Tja, also«, hörte sie sich sagen. »Vielen Dank für die Information.«
Sie wollte den Hörer schon auflegen, als sie die Schwester erneut etwas sagen hörte, das klang wie der blecherne Ton einer Überlagerung im Fernsehen. »Verzeihung, das habe ich jetzt nicht ganz verstanden.«
»Oh, Entschuldigung. Ich wollte nur wissen … Kann ich Ihrer Tochter sagen, dass Sie kommen, um sie abzuholen?«
»Nein, ich glaube, das können Sie nicht.«
Die Schwester schwieg, war offenbar unsicher, was sie von dieser Antwort halten sollte. Anne glaubte beinahe zu sehen, wie sie mit offenem Mund auf den Telefonhörer starrte.
»Bitte verzeihen Sie«, stotterte die Schwester schließlich. »Es ist … eigentlich geht mich das ja nichts an, aber ich glaube, ihre Tochter wäre froh, wenn Sie kämen.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Wie bitte?«
»Woher wissen Sie, dass sie froh wäre?«, fragte Anne und artikulierte jede Silbe überdeutlich. »Haben Sie sie gefragt?«
»Sie hat darum gebeten, dass wir Sie anrufen«, antwortete die Schwester leicht verzweifelt.
»Das haben Sie getan. Ich weiß das zu schätzen. Aber ich denke, dass Charlotte mit ihrem Wagen da ist. Wäre doch ein bisschen zu viel des Guten, wenn ich auch noch käme.«
»Ich glaube wirklich …«
»Es ist mir egal, was Sie glauben«, fiel Anne ihr schroff ins Wort, bevor sie sich noch beherrschen konnte. »Das sind Dinge, von denen Sie nichts verstehen.« Anne knallte den Hörer so heftig auf die Gabel, dass der ganze Apparat unter ihrer Handfläche vibrierte. Dann ging sie ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa, das sie nie gemocht, an das sie sich jedoch mittlerweile gewöhnt hatte.
Der Anruf der Krankenschwester war für Anne eine durchaus besorgniserregende Nachricht. Dabei kam Charlottes Ausbruch für Anne nicht unbedingt überraschend. Rückblickend glaubte sie zu erkennen, dass er sich schon seit Jahren abgezeichnet hatte, jedenfalls seit … nun ja, seit jenem Tag.
Sie hatte geglaubt, jener Tag sei ad acta gelegt, die schockierende Wahrheit vertuscht, verborgen, aus ihrem Alltagsgewissen verbannt. Sie hatte es so für das Beste gehalten. Sie glaubte, die bewusste Missachtung sei ein Mittel, mit dem hässlichen Gesicht der Realität leben zu können. Aber nein! Da war er wieder, dieser Tag, tauchte einfach wieder auf und wollte erneut verarbeitet werden. Anne wusste nicht, ob sie das noch einmal durchstand. Es war zu viel. Dem gleißenden Licht der Vergangenheit mochte sie nichts ins Auge sehen. Es war zu eindeutig, es verzieh nichts.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und saß da, atmete schwer und regelmäßig, starrte unverwandt geradeaus zum Kaminsims hinüber, auf dem unter einer dünnen Staubschicht zahllose Fotos und Einladungen in Silberrahmen standen. Ihr Blick ruhte auf einem Gruppenfoto am äußersten rechten Rand. Es war ein Schwarz-Weiß-Foto von ihr, Charles und Charlotte, am Tag von Charlottes Abschlussfeier an der Universität.
Charlotte trug den festlichen Talar ihrer Universität und stand vor dem Klinkerreihenhaus, das sie im letzten Semester mit Freunden bewohnt hatte. Sie blickte lachend auf etwas, das außerhalb des Fotos lag. Die Kamera hielt dieses Lachen und den seitwärts gerichteten Blick fest, der andeutete, dass sie nicht gemerkt hatte, dass man sie fotografierte. Ihre Föhnfrisur, die sie sich extra für diesen Tag hatte machen lassen, war vom Wind zerzaust. Einige Strähnen hatten sich gelöst und verdeckten teilweise eine Gesichtshälfte.
Rechts von Charlotte stand Anne, lächelte standhaft in einem eng anliegenden Kostüm und hielt eine rechteckige Handtasche fest umklammert. Die andere Hand hatte sie nach Charlotte ausgestreckt, berührte sie jedoch nicht. Es sah aus,
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