Scherbenherz - Roman
hundertachtzig Grad herum und sah sie an. Charlotte starrte unverwandt durch die Windschutzscheibe geradeaus. Die Reibung seines Hosenstoffs auf dem Autositz verursachte bei jeder Bewegung ein dumpfes Knistern.
Er legte seine Hand erneut auf ihr Bein, diesmal knapp unterhalb ihres Rocksaumes, und schob diesen allmählich aufwärts, bis knapp über den Beinausschnitt ihres Slips. Er beugte sich über sie, schob die andere Rockseite hoch, bis der Saum horizontal zu ihren Schenkeln, dicht unterhalb ihrer Taille lag. Er senkte den Blick und starrte, wie es ihr vorkam, mehrere schweigende Minuten lang auf ihre nackten Beine, ihre weiße Unterwäsche.
Er atmete durch die Nase aus und ein. Bei jedem Atemzug entstand ein leises Pfeifgeräusch. Charlotte begann zu zählen.
Eins.
Zwei.
Drei.
Und dann so schnell, dass ihr keine Zeit zu reagieren blieb, schlang er seine Finger um ihren Nacken, zog sie nahe zu sich heran, küsste sie heftig auf den Mund und öffnete mit seiner Zunge ihre Lippen.
Etwas zerbrach.
»Nein!«, schrie Charlotte und stieß ihn mit beiden Händen von sich.
Charles zuckte zurück, die Augen vor Entsetzen geweitet. Seine Züge schienen zu entgleisen, die Kanten und Linien wie eine Gummimaske in der Hitze zu schmelzen, die helle Haut zu erschlaffen. Diesen Gesichtsausdruck wusste Charlotte zuerst nicht zu deuten. Dann erkannte sie darin das blanke Grauen. Er wirkte zu Tode erschreckt.
Und exakt in diesem Moment wurde Charlotte klar, das er nicht sie ansah. Sie merkte, dass er seitwärts durch die Windschutzscheibe schaute, und folgte seinem Blick. Und dort stand, statt wie zuvor der Zeitungsständer vor dem Eckladen und den Häusern aus Legosteinen, ihre Mutter.
Die Szene war so bizarr, so absolut irreal, so traumatisch, dass Charlotte unwillkürlich den Kopf schüttelte und versuchte, das Bild loszuwerden. Als sie jedoch wieder aufsah, war Anne noch immer da, das Haar mit dem gelb gestreiften Kopftuch zurückgebunden, das Charlotte sofort als das Weihnachtsgeschenk erkannte, das sie ihr zwei Jahre zuvor gemacht hatte.
Anne sah ihr direkt in die Augen, hatte den entsetzten Blick durch die Glasscheibe auf Charlotte gerichtet, die Lippen zu einem atemlosen, stummen »O« geformt. Sie trug eine Einkaufstasche in einer Hand. Neben ihren Füßen lag eine zerknitterte Plastiktüte, die Anne offenbar aus der Hand gefallen war und deren Inhalt – alte Pullover, Hüte und Schuhe – sich über den Asphalt verstreut hatten.
Nichts schien mehr Sinn zu machen. Was tat sie hier? Was hatte sie gesehen oder nicht gesehen?
Diese Gedanken sprangen wie Tennisbälle aus einer Ballmaschine durch Charlottes Bewusstsein, schlugen auf und zischten durch ihren Kopf, verschwanden wieder, bevor sie sie begreifen konnte. Und mitten in dem ganzen Chaos der Emotionen fasste Charlotte einen einzigen zusammenhängenden Gedanken, der alles andere überlagerte: Ihre Mutter war da. Sie war in Sicherheit. Anne wusste es. Alle Anstrengungen, alle Heucheleien und Vertuschungen waren nicht mehr nötig. Und sie musste sich nicht länger einreden, so zu tun, als sei alles in Ordnung. Jetzt war es raus. Es würde keine Lügen mehr geben. Es würde keine halbgaren Mutmaßungen oder zögerlichen Versuche in falscher Normalität mehr geben. Sie musste nichts mehr verbergen.
Aber dann, mit einem flachen Atemzug, änderte sich alles. Das Entsetzen, das Charlotte in Annes Gesicht gesehen hatte, schien ihr geradezu erdrutschartig zu entgleiten. Zurück blieb eine Miene, die an Unergründlichkeit kaum zu übertreffen war und sich wie ein Film über Annes Pupillen legte.
Anne wandte sich einfach ab.
Durch das verschmierte Glas der Windschutzscheibe sah Charlotte zu, wie Anne vorwärtsstolperte, am Absatz eines Schuhs hängen blieb, der auf der Bordsteinkante lag, das Gleichgewicht wiederfand, sich aufrichtete und in Richtung Hauptstraße davonging, die Einkaufstasche noch immer in der Hand. Die Kleidungsstücke blieben auf der Straße liegen, wurden einfach zurückgelassen; eine Spur ungewollter Sinnesleere. Die Ärmel eines abgewetzten Tweedjacketts zeigten geknickt nach außen, der Winkel unnatürlich verdreht, die Armöffnung hohl.
Im Auto herrschte Schweigen, die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Keiner bewegte sich. Charlotte beobachtete, wie ihre Mutter den ganzen Weg zum Ende der Straße lief, die Schultern gegen den Wind gestemmt, die Schritte unnatürlich hastig, so dass die Einkaufstasche gegen ihre Waden schlug. Sie
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