Scherbenherz - Roman
als versuche sie, Charlotte auf etwas aufmerksam zu machen, sie zu beschützen, ohne sie zu erreichen. Die Hand verharrte auf dem grobkörnigen Foto einfach in der Luft.
Die beherrschende Figur auf dem Bild jedoch war Charles. Er stand links von Charlotte und hatte den Arm in großmütiger Geste um die Schultern seiner lachenden Tochter gelegt. Er lächelte nicht einmal, wirkte jedoch – ja, wie? – irgendwie stolz. In seinem Blick lag etwas Besitzergreifendes, beinahe so, als beanspruche er den Erfolg der Tochter für sich. Er wirkte statisch, war die einzige Person, die der Fotoapparat in aller Schärfe erfasst hatte, unbeweglich und monumental, der eigenen selbstverständlichen Bedeutung bewusst. Er hatte Präsenz.
Und da standen sie, ein Triumvirat, eine Beinahe-Einheit, eingefangen und au f Fotopapier gebannt, so wie ein Außenstehender sie gesehen hatte. Wer hatte das Foto überhaupt aufgenommen? Anne konnte sich nicht erinnern. Sie hatte es später stets seltsam gefunden, dass jemand ein Schwarz-Weiß-Foto gemacht hatte. Es war schon damals altmodisch gewesen und war es jetzt erst recht, da die meisten mit Digitalkameras fotografierten und selbst Zeitungen brillante Farbaufnahmen auf ihren Titelseiten druckten.
Anne betrachtete das Foto lange. Sie saß auf dem Sofa, studierte es aufmerksam, erinnerte sich, speicherte jedes kleine Detail. Das verwaschen blaue Licht der Abendstimmung drang allmählich durch das Erkerfenster in den Raum. In der Ferne war gelegentlich das Quietschen der Reifen anfahrender Autos zu hören. Anne beachtete es nicht. Sie wollte nur nachdenken; nachdenken und allein sein.
Anne; Charles
A lso war sie schwanger. Sie saß vornübergebeugt auf der Toilettenbrille, eine ungeöffnete Schachtel Tampons auf dem Fußboden daneben. Sie war schon häufiger über der Zeit gewesen. In den vier Ehejahren hatte sie mehrfach falschen Alarm erlebt und war gezwungen gewesen, nach kurzzeitiger Vorfreude die Realität zu akzeptieren, weiterzumachen, als wäre nichts geschehen – was ja den Tatsachen entsprach. Diesmal war es anders. Sie wusste es. Sie wusste es einfach. Und dennoch verschaffte ihr diese Gewissheit, so hart erarbeitet, so heiß erkämpft, nicht die erwartete ungetrübte Freude. Stattdessen akzeptierte sie eher resigniert die Situation und hatte zudem plötzlich Angst. Es war nicht die Angst davor, Mutter zu werden, stellte sie fest, während sie von der Toilettenbrille aufstand und die Wasserspülung betätigte. Sie hatte Angst davor, wie Charles reagieren würde.
Charles hatte immer angedeutet, dass er sich Kinder wünschte, obwohl sie, wie bei so vielen Dingen in ihrer Ehe, nie konkret über die praktischen Folgen gesprochen hatten. Und dann hatte es so lange gedauert, bis sie endlich ein Kind empfangen hatte, und es war in der Zwischenzeit so viel geschehen, dass sie nicht mehr sicher war, wie er, und im Grunde auch sie, darüber dachten.
Sie ging ins Schlafzimmer und schlang, ohne nachzudenken, einen Arm um ihre Taille. Sie zog die Vorhänge vor, um das Tageslicht zu verbannen, legte sich vorsichtig auf das Bett, schlüpfte aus den Schuhen, zog die Decke über die Beine, wobei ein sanftes »Wusch« entstand, als der Baumwollstoff über ihre Seidenstrümpfe glitt. Sie fröstelte, fühlte sich müde und so weit, weit weg, als sinke sie auf den Grund des Ozeans, während das Tageslicht allmählich fließend in Dunkelheit überging. Sie schlief ein.
Als sie mehrere Stunden später wieder aufwachte, übermannte sie das schlechte Gewissen. Dann geriet sie in Panik. Sie warf einen Blick auf den Wecker auf dem Nachttisch. Es war sechs Uhr abends. Charles musste jeden Moment nach Hause kommen, und sie hatte kein Abendessen vorbereitet. Sie setzte sich im Bett auf, fuhr sich mit den Fingern durch das wirre Haar und glättete den Rock so gut es ging. Dann stand sie so schnell auf, dass ihr beinahe schwarz vor Augen wurde und sie schwankte. Was hatte sie mitten am Tag im Bett gemacht? Warum hatte sie sich so gehen lassen? Allmählich dämmerte ihr bruchstückhaft, was geschehen war. Sie erinnerte sich. Ihr Herz begann, heftig zu klopfen. Kalter Schweiß überzog ihre Haut. Sie sah auf ihre Hände herab. Sie zitterten. Sie zog die oberste Schublade ihres Nachttischs auf, nahm eine Plastikschachtel mit Tabletten heraus, drückte auf den Deckelverschluss und kippte sie um. Sie schüttelte eine kleine weiße viereckige Tablette in ihre Handfläche und nach kurzem Zögern noch eine zweite.
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