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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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schaffen würden, ließ ihren Finger gegen den Uhrzeigersinn über das Zifferblatt ihrer Armbanduhr kreisen, als könne sie damit die Zeit zurückdrehen.
    Sie war so ängstlich auf die Uhrzeit fixiert, dass sie zuerst weder die veränderte Atmosphäre im Auto noch die Tatsache bemerkte, dass Charles das Autoradio ausgestellt hatte, und sie in absoluter Stille weiterfuhren. Dann hielten sie vor einer roten Ampel an. Sie wickelte eine Haarlocke um ihren Zeigefinger, strich mit dem weichen Ende der Strähne wie mit einem Pinsel über ihre Oberlippe. Charles drehte sich halb zu ihr um und sah sie an.
    »Also«, sagte er mit sanfter Stimme. »Was hast du heute in der Schule vor?«
    Charlotte ließ die Haarsträhne los, um nicht kindisch auszusehen. Sie überlegte, ob sie ihm von dem Test erzählen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Charles betrachtete Naturwissenschaften als sein Spezialgebiet und neigte dazu, bei der geringsten Ermunterung, sich in unverständlichen Vorträgen über Masse und Neutronen auszulassen. Da er nie den Versuch gemacht hatte, sich sprachlich auf ihre Ebene zu begeben, sondern es stets vorzog, sich der komplizierten Ausdrucksweise der Erwachsenen zu bedienen, konnte Charlotte ihm nie ganz folgen. Sie versuchte dann angestrengt, den komplizierten Zusammenhängen seiner wissenschaftlichen Ausführungen zu folgen, wobei sie meist schnell ermüdete und hinterher stets das Gefühl hatte, dümmer zu sein als zuvor.
    »Wir haben gerade Projektunterricht«, sagte sie schließlich.
    »Aha. Und was ist das für ein Projekt?«
    »Evakuierungen im Zweiten Weltkrieg.« Weiter führte sie das Thema nicht aus.
    Die Ampel schaltete von Rot auf Orange und dann auf Grün.
    »Klingt interessant.« Während er das sagte, löste er die linke Hand vom Steuerrad, streckte sie in Richtung Beifahrersitz aus und legte sie auf die Innenseite ihres Oberschenkels. Sie fühlte Gewicht und Wärme seiner Finger durch das feste graue Material ihres Schuluniformrocks hindurch. Er räusperte sich. Charlotte hielt die Luft an, so als könne sie damit seine Hand davon abhalten, sich zu bewegen. Sie wollte gern alles aushalten, wenn sie nur einfach dort bliebe, wo sie war.
    Sie fühlte sich von seiner Berührung auf ihrem Sitz festgenagelt, starrte auf seine Hand, bis deren Konturen vor ihren Augen verschwammen, wie ein Kiesel im schlammigen Wasser. Sie sah die marshmallowartige Rosafärbung seiner Haut, die nahezu symmetrischen Vertiefungen zwischen den Fingern, die erhabenen Knöchel. Dabei war sie außerstande, diese noch mit dem Körper ihres Vaters in Verbindung zu bringen.
    Damit versuchte Charlotte, alles um sich herum auszublenden. Sie registrierte nur am Rande, dass Charles an der nächsten Kreuzung nicht nach links in Richtung Schule, sondern nach rechts abbog, ließ ihn jedoch widerstandslos gewähren, war durch diese Wendung nicht einmal sonderlich beunruhigt, die immerhin bedeutete, dass sie sehr viel zu spät kommen würde. Aus irgendeinem Grund kümmerte sie das alles nicht mehr. Es spielte für sie keine Rolle mehr. Besorgniserregend war allein diese Hand auf ihrem Schenkel.
    Wie von fern hörte sie das tickende Geräusch des Blinkers.
    Tick-tick-tick.
    Tick-tick-tick.
    Und dann bogen sie in eine ihr bisher unbekannte Sackgasse ein, die in eine Wohngegend führte. Charles parkte den Wagen mit der für ihn typischen Präzision, manövrierte das Auto geschickt in eine Parklücke. Dann schaltete er den Motor aus, und er nahm seine Hand von ihrem Schenkel, um die Handbremse anzuziehen.
    Charlotte atmete aus, leise und kontrolliert, um so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen, so als könne sie durch Willenskraft allein ihren Vater überzeugen, dass sie seiner Beachtung nicht wert sei.
    Charles hatte das Auto als letztes vor eine Reihe parkender Wagen gestellt. Charlotte sah durch die Windschutzscheibe. Vor ihnen führte ein Bürgersteig an Bungalows aus rotem Klinker entlang, die so neu waren, dass sie glänzten wie Legosteine. An der Straßenecke lag ein kleiner Laden, vor dem ein Zeitungsständer stand. Sie erkannte, dass im obersten Fach die Zeitung mit der Titelseite lag, die sie während des Frühstücks bereits vor Augen gehabt hatte, die Seiten vom Wind aufgebläht, der Text vor ihren Augen verschwimmend. Ihr Blick erfasste nur die beruhigende Vertrautheit des leicht fleckigen Zeitungspapiers.
    Charles schnallte seinen Sicherheitsgurt ab.
    Klick. Swusch.
    Dann drehte er sich auf dem Fahrersitz um

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