Scherbenherz - Roman
öffnete.
»Ein Päckchen Lucky Strike Light bitte. Und ein Feuerzeug.«
Der alte Besitzer mit der runzeligen Haut sah sie wehmütig aus seinen braunen Augen über ein Plexiglasgefäß mit Losen hinweg an. Wortlos drehte er sich um, nahm ein Zigarettenpäckchen aus dem gut gefüllten Regalfach dahinter und schob das blaue und silberne Päckchen über die Theke.
»Welche Farbe?«
»Wie bitte?«
»Das Feuerzeug. Welche Farbe?«
»Egal. Suchen Sie eines aus.«
Der alte Mann wählte ein grell pinkfarbenes Wegwerffeuerzeug und reichte es ihr. Er lächelte flüchtig, wobei sich seine Falten wie bei einem Bassett über den Augen auf der Stirn zusammenschoben.
»Hübsche Farbe für eine hübsche Lady«, sagte er. »Macht sieben Pfund zwanzig.«
»Danke«, murmelte Charlotte und reichte ihm das Geld.
Sie ging hinaus, zündete sich eine Zigarette an und inhalierte so tief, dass ihr beinahe schwindelig wurde. Charlotte hatte nie in der Öffentlichkeit geraucht, doch gelegentlich hatte sie Lust auf den leicht rauchigen Karamellgeschmack einer Lucky Strike. Sie mochte den scharfen Geschmack des Tabaks auf ihrer Zunge und seine leicht betäubende Wirkung, die sich angenehm in ihrem Körper ausbreitete.
Sie zückte ihr Handy und rief Gabriel an. Beim dritten Klingelton hob er ab.
»Hallo, Süße. Na, wie war’s?«
»Gabriel, ich muss mit dir reden.«
Sie hörte, wie er am anderen Ende der Leitung hörbar die Luft einsog.
»Klingt wie eine Drohung.«
»Nein, das ist es nicht. Ich … es gibt Dinge …Ich glaube, ich muss dir einiges erklären. Etwas, das ich schon gleich zu Anfang hätte tun müssen.«
Sie zog hastig an ihrer Zigarette.
»Charlotte, rauchst du etwa?«, fragte er in nachdenklichem Ton. Gabriel hatte nichts gegen ihre Angewohnheit, ab und zu heimlich zu einer Zigarette zu greifen, fand es insgeheim ein bisschen verrucht und sexy.
»Ja, ich rauche.«
Er lachte leise. »Na, dann muss ich mich wohl auf einiges gefasst machen. Ich hoffe nur, du willst mir nicht eröffnen, dass du dich wie ein Mann in einem Frauenkörper fühlst oder so ähnlich.«
Charlotte lachte leichthin. »Nein, versprochen. Es ist nichts dergleichen.«
»Okay. Dann komm zu mir. Ich mach uns was zum Abendessen.«
»Okay.«
»Charlotte?«
»Ja?«
»Ich liebe dich. Vergiss das nicht.«
»Tu ich nicht.«
Also hatte sie ihm alles erzählt: über ihren Vater, ihre Mutter, über das Gespinst aus unterschwelligen Spannungen und schwammigen Halbwahrheiten und die Sprachlosigkeit in ihrer Familie. Nie zuvor hatte sie so offen und ehrlich mit einem Menschen gesprochen, und als es vorüber war, fühlte sie sich erleichtert und verletzlich, allem und jedem schutzlos ausgeliefert wie ein neugeborenes Kätzchen.
Gabriel hatte die ganze Zeit über kaum etwas gesagt, hatte nur über den Küchentisch hinweg ihre Hand gehalten, während sie sich alles von der Seele geredet hatte. Selbst als sie zum harten Kern kam – zu dem, was ihr Vater mit ihr gemacht hatte; jener Tag im Auto; die Weigerung der Mutter zu akzeptieren, was geschehen war; der Abend in Piccadilly, als alles wieder über sie hereingebrochen war –, hörte Gabriel nur schweigend zu und fasste ihre Hand noch fester.
Charlotte war ihm für diese liebevolle Zurückhaltung seltsamerweise dankbar. Eine wütende Reaktion seinerseits hätte ihr nur das Gefühl gegeben, versagt zu haben, nicht genug Widerstand geleistet, sich mitschuldig gemacht zu haben, weil sie all das Hässliche einfach hingenommen hatte. Und sie wollte nicht, dass er den Stab über Charles brach. Trotz allem war da noch ein Rest Loyalität gegenüber ihrem Vater. Sie war immerhin diejenige gewesen, die er verletzt hatte, die es in den folgenden Jahren vorgezogen hatte, alles zu verdrängen. Sie wollte nicht, dass man ihre Gefühle in Schablonen presste, an die Vorstellungen anderer von Gut und Böse anpasste, sie danach beurteilte, was andere an ihrer Stelle getan hätten. Sie wollte lediglich, dass der Mensch, der sie liebte und ihr zuhörte, sie verstand und sie weiterhin liebte, wie sie war. Sie wollte ihm einen Einblick in die schwärzesten Abgründe ihrer Seele geben. Wünschte sich Verständnis, Liebe und Zärtlichkeit für die Person, die sie geworden war.
Es dauerte zwei Stunden, bis Charlotte ihre Geschichte erzählt hatte. Immer wieder kamen die Tränen. Dann wieder fühlte sie sich innerlich zerrissen und wütend. Manchmal einfach leer und ausgepumpt von der Anstrengung, von dem Bewusstsein, alles
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