Scherbenherz - Roman
allein geschultert zu haben, sich allein aus diesem Sumpf gezogen zu haben, der jahrelang gedroht hatte, sie zu verschlingen.
Gabriel stellte nur eine einzige Frage. Und auch erst, als er sicher sein konnte, dass Charlotte alles gesagt hatte, was zu sagen war. Er ging zu ihr, auf die andere Seite des Tisches, kniete neben ihr nieder und nahm sie in seine Arme. Dann fragte er so leise und vorsichtig, dass sie ihn kaum verstand: »Was meinst du? Solltest du nicht mit deiner Mutter reden?«
»Vielleicht«, antwortete Charlotte und dachte zurück an Roberta Mill. Aber im Grunde wusste sie, dass ihre Angst vor dem, was ans Licht kommen würde, zu groß war, um es zu versuchen.
»Es geht mich natürlich nichts an«, tastete er sich vorsichtig voran und streichelte ihr übers Haar. »Aber vielleicht kannst du im Grunde deines Herzens deiner Mutter nicht verzeihen, weil es einfacher ist, ihr die Schuld an allem zu geben. Vor deinem Vater hast du Angst. Sicher. Aber die Angst, nicht von ihm geliebt zu werden, erscheint mir sogar größer. Du nimmst, was du von ihm kriegen kannst. Bei Anne ist es anders. Ihr gegenüber gibt es diesen Zwiespalt nicht.« Er hielt einen Augenblick inne. Charlotte schwieg. »Du kannst dir ihrer Liebe sicher sein«, fuhr Gabriel fort. »Und möglicherweise fällt es dir deshalb leichter, sie zu hassen. Von ihr hast du nichts zu befürchten. Was auch kommt, sie wird dich immer lieben.« Er räusperte sich. »Unabhängig davon, dass sie dich so furchtbar im Stich gelassen hat.«
Charlotte antwortete nicht, doch das Schweigen war beredt. Es kam dem Eingeständnis sehr nahe, dass er die Wahrheit sagte. Dies jedoch laut auszusprechen ging über ihre Kraft. Gabriel wusste es und drang nicht weiter in sie. Stattdessen stand er auf und zog sie an sich. Charlottes Kopf ruhte auf seinen Bauchmuskeln. Er strich ihr zärtlich übers Haar. Sie atmete den Lavendelduft seines Oberhemds und den Geruch seiner Haut ein. Sie hatte plötzlich den Wunsch, ihn zu berühren, ihn zu spüren. Sie ließ ihre Hand unter sein Hemd und in die vertraute Mulde über seiner Hüfte gleiten.
»Alles ist gut«, sagte er nach einigen Minuten. »Ich passe für den Rest deines Lebens auf dich auf.«
Diese Worte waren so tröstlich, so unumwunden ehrlich und voller Liebe, dass Charlotte der Atem stockte. Sie versuchte etwas zu antworten, ihm zu danken, ihm zu sagen, dass sie ihn liebte – trotz aller Ängste und Hindernisse und dem Chaos, das er aus seiner Vergangenheit gemacht hatte. Doch sie brachte kein Wort heraus. Aber vielleicht war das auch nicht nötig. Vielleicht wusste er es längst auch so.
Danach gingen sie zu Bett, und er hielt sie die ganze Nacht in seinem Armen. Auch als sie aufwachte, sich im Zwielicht der frühen Morgenstunden unruhig hin und her wälzte, schlang er noch immer die Arme um sie. Charlotte schlief einen traumlosen Schlaf, versank in wohltuend samtiger Schwärze. Als sie schließlich die Augen aufschlug, blickte sie auf die Uhr und sah, dass es fast Mittag war und Gabriel nicht mehr neben ihr lag.
Einen Moment glaubte sie, es sei noch Wochenende, doch dann dämmerte es ihr. Es war Montag und sie hätte im Büro sein müssen.
»Mist!« Sie sprang aus dem Bett und war auf dem Weg zum Badezimmer, als die Schlafzimmertür aufging.
»Ah, du bist wach.«
»Gabriel?«
Er lachte. »Keine Angst. Ich habe bei dir im Büro angerufen und dich krankgemeldet. Sie waren sehr verständnisvoll. Hier …«
Er reichte ihr einen großen Becher Kaffee. Dampf stieg von der schwarzen Flüssigkeit auf und legte sich feucht über ihr Gesicht.
»Danke«, sagte Charlotte benommen. Sie war zu schnell aufgestanden.
»Du hast lauter Schlafstriemen im Gesicht«, sagte Gabriel lächelnd. »Wie fühlst du dich?«
»Gut«, antwortete sie automatisch, nahm den Becher Kaffee mit ins Bett und lehnte die Kissen gegen das Kopfende aus Schmiedeeisen, so dass sie aufrecht sitzen konnte.
Gabriel folgte ihr ins Bett, legte sich neben sie, stützte den Kopf auf den Arm und berührte zaghaft ihre Hüfte.
»Du musst dich jetzt nicht zwanghaft gut fühlen, Charlotte.«
Charlotte antwortete nicht. Gabriel seufzte.
»Du sollst wissen, dass es mich sehr bewegt hat, dass du dich mir gestern Abend anvertraut hast«, begann er nach längerem Schweigen. »Ich kann mir vorstellen, wie viel Überwindung dich das gekostet haben muss. Ich werde dein Vertrauen nie enttäuschen. Das verspreche ich. Was du durchgemacht hast – allein der
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