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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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sich um jeden Preis Roberta Mills Sympathie sichern. Sie war besessen davon. Jedes, auch das unwichtigste persönliche Detail, das die Therapeutin während der Unterhaltungen einflocht, speicherte Charlotte penibel in ihrem Gedächtnis. Einmal, als Charlotte verriet, dass sie gern eine Katze hätte, hatte Roberta Mill mit einem zustimmenden »Katzen sind sehr liebe Haustiere« reagiert, und Charlotte registrierte begeistert, dass die Therapeutin nie zuvor eine intimere Information von sich preisgegeben hatte. Charlotte begann von Roberta Mills positivem Urteil abhängig zu werden, wie das auch bei ihren Lehrern in der Schule der Fall gewesen war. Von jeher war ihr daran gelegen, dass man sie bewunderte, ihre Intelligenz lobte und sie für etwas Besonderes hielt: eben als ein Mädchen mit schneller Auffassungsgabe, das seinen Verstand richtig einzusetzen wusste. Die unbeabsichtigte Konsequenz daraus war, dass Charlotte bei ihren Sitzungen nie die ganze Wahrheit sagte. Das Bedürfnis, den Verlauf des Gesprächs zu steuern, zu beweisen, dass die Therapie griff, war ihr wichtiger. Sie erzählte Roberta Mill nie, was mit Charles geschehen war, denn sie wollte absurderweise verhindern, dass die Therapeutin schlecht über ihren Vater dachte.
    Nach zwöl f Wochen stellte Roberta Mill eine positive Prognose und sagte, sie halte Charlotte, die »hart an sich gearbeitet habe« für geheilt.
    Ein Gespräch allerdings blieb Charlotte besonders im Gedächtnis. Sie hatten über das Übliche gesprochen: über Familie, Arbeit, unterdrückte Gefühle. Und aus irgendeinem Grund hatte Charlotte erwähnt, dass ihr Ekzem ihr im Augenblick wieder besonders zu schaffen mache.
    »Worauf führst du das zurück?«, fragte Roberta Mill, wandte den Kopf zur Seite, sah sie aus ihren grünen Augen prüfend und erwartungsvoll an.
    »Ich vermute, das hängt mit Stress zusammen.«
    Es folgte eine Denkpause. Schließlich, als klar war, dass von Charlotte kein weiterer Kommentar kommen würde, erkundigte sich Roberta Mill: »Wann ist dieses Ekzem zum ersten Mal aufgetreten?«
    »Als ich elf oder zwölf war, glaube ich.«
    »Und was ist zu dieser Zeit denn in deinem Leben passiert?«
    Charlotte dachte zurück, und plötzlich drängte sich die Erinnerung wieder in ihr Bewusstsein – an das Auto, den Vater, das tickende Geräusch des Blinkers, die Klinkerhäuser im Legostil, den Anblick ihrer Mutter durch die Windschutzscheibe, die auf der Straße verstreuten Kleidungsstücke und daran, wie sie gerannt, nur gerannt war, ziellos und kopflos. Sie schluckte und fühlte, wie aufkommende Tränen in ihren Augen brannten. Nie zuvor hatte sie die eigentlich logische Verbindung zwischen dem Ekzem und den Geschehnissen von damals hergestellt. Als sie es begriff, war ihr plötzlich unglaublich traurig zumute.
    »Es gab da Probleme mit meinen Eltern«, sagte Charlotte und räusperte sich. »Sie haben sich nicht mehr vertragen, und ich habe mich … wie ein Eindringling, wie eine Fremde zu Hause gefühlt. Wir haben nie darüber gesprochen, aber …« Sie sammelte sich, war plötzlich angesichts der melodramatischen Art, wie sie über eine Nichtigkeit sprach, peinlich berührt. »Aber so schlimm war es eigentlich gar nicht.«
    »Sprich aus, was du sagen wolltest«, sagte Roberta Mills sanft. »Beende den Gedanken.«
    »Wir haben nie darüber geredet. Ich habe mir die ganze Zeit über solche Sorgen gemacht, Sorgen, dass ich etwas falsch mache oder dass sie unglücklich sind oder dass sie sich scheiden lassen … Obwohl das vielleicht das Beste gewesen wäre, schätze ich. Ich erinnere mich nur noch an dieses allgegenwärtige Gefühl von …« Charlotte suchte nach dem richtigen Wort. »… atmosphärischen Störungen. Ja, das beschreibt es vielleicht am besten.«
    Roberta Mill veränderte ihre Sitzhaltung, stellte die Füße nebeneinander und beugte sich leicht vor. Sie verschränkte die Hände im Schoß. »Das klingt, als wärst du damals ein Kind gewesen, das verzweifelt versucht hat, seine Gefühle in Worte zu fassen, zu sagen, wie du dich fühlst, aber keine Gelegenheit dazu hattest.«
    Charlotte nickte. Die Therapeutin lehnte sich in ihrem Sessel zurück, ließ den Gedanken in der Schwebe, lächelte warmherzig und wartete stumm auf eine Antwort. Charlotte fühlte, wie ihr die Tränen übers Gesicht rannen, und wischte sie mit dem Handrücken weg, bis Roberta Mill ihr eine Packung Papiertaschentücher anbot, sich vorbeugte und diese auf die Armlehne des Sofas

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