Scherbenherz - Roman
Gedanke, dass du das alles als Kind erleben musstest, macht mich fertig. So etwas sollte man niemandem zumuten, niemandem wünschen.«
Charlotte sah ihn an und lächelte. Er klang stets so förmlich, wenn er nervös war. »Ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Du hast damit nichts zu tun. Ich liebe dich. Ich wollte nur, dass du verstehst, warum ich gelegentlich so schwierig bin.«
»Du bist nicht schwierig«, widersprach er ernst. »Du bist eine tolle Frau, die beste meines Lebens. Schwierig sind andere. Du meine Güte!«
Über seiner Nasenwurzel entstand eine Falte. Er dachte nach. »Glaubst du«, begann er unsicher und überlegte es sich dann anders. »Vergiss es. Es geht mich nichts an.«
»Unsinn. Was wolltest du sagen?«
»Sag mir, dass ich den Mund halten soll, wenn ich Blödsinn rede.«
»Versprochen.« Sie lächelte. »Damit hatte ich noch nie ein Problem. Ich habe dir immer gesagt, wenn du Unsinn geredet hast.« Sie trank einen Schluck Kaffee. Der bittere Geschmack tat ihr gut. Sie schluckte und fühlte, wie das heiße Getränk durch ihre Kehle rann.
Gabriel räusperte sich. »Deine Mutter tut mir leid«, gestand er leise. »Was sie getan hat, war gemein – sogar unverzeihlich –, aber offenbar hat dein Vater euch beide drang-saliert, euch manipuliert, dazu gebracht, unmögliche Dinge zu tun. Und deine Mutter hatte zu viel Angst, um Widerstand zu leisten.«
»Hm«, brummte Charlotte, während sich ihr beinahe der Magen umdrehte. Gabriel nahm ihre Hand und küsste sie auf die Fingerspitzen.
»Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe?«
»Ja.«
»Ich sage das, weil ich dich liebe und weil mir klar ist, dass Anne dich liebt. Sie liebt dich so sehr, dass sie mit ihrer Schuld kaum noch leben, nicht mit sich ins Reine kommen kann. Das macht sie wütend, verschlossen und bitter. Zu einem zutiefst unzufriedenen Menschen.«
»Aber warum hat sie vor allem die Augen verschlossen?«, entgegnete Charlotte. Nur mit Mühe gelang es ihr, die Frage zu formulieren, die sie ein Leben lang verfolgt hatte. Sie fröstelte, starrte zur Decke. Ihre Augen folgten einem Riss im Putz, um Gabriel nicht ansehen zu müssen. Sie wollte ihre eigene Verletzlichkeit nicht offenbaren. Sie war es leid, Tränen zu vergießen. »Wieso tut man so etwas dem eigenen Kind an?«
»Keine Ahnung, Liebes. Vielleicht hat sie gedacht, dass du es so gewollt hast.« Er hielt kurz inne. »Wie gesagt, ich habe keine Erfahrung in diesen Dingen.«
»Vielleicht hast du recht«, seufzte Charlotte, denn es war der Weg des geringsten Widerstandes. Sie wollte das Thema wechseln. »Weißt du«, begann sie hastig. »Mir geht es so viel besser, seit ich dir alles erzählt habe.«
Und das war die Wahrheit. Sie fühlte sich ruhig, auf eine Art selbstsicher, wie nie zuvor in ihrem Leben. Obwohl kaum vierundzwanzig Stunden seit ihrem Krankenhausbesuch vergangen waren, hatte sie das Gefühl, dass sich ihre Perspektive radikal verändert hatte. Mittlerweile kamen ihr die früheren Zweifel an Gabriel geradezu lächerlich vor. Er bot ihr eine Liebe ohne Vorbehalte. Mit einem Mal erschien ihr die Antwort auf die Vergangenheit nicht die Vergangenheit selbst, sondern die Zukunft, die sie nach eigenen Regeln gestalten konnte. Die Zukunft gehörte ihr und Gabriel. Ihre Eltern hatten ihre Wahl getroffen, ihr Leben gelebt. Jetzt war sie an der Reihe.
Dieser Schluss kam ihr so selbstverständlich vor, schien so klar die logische Konsequenz zu sein, dass sie laut auflachte. Und sie wunderte sich selbst am meisten über ihre Scheuklappen, ihre Dummheit. Ihre Zukunft lag in den schönsten Farben vor ihr. Und ihre Freude war groß, Gabriel an ihrer Seite zu wissen.
»Was ist los?«, fragte er.
»Nichts.«
Sie stellte den Kaffeebecher auf den Fußboden und beugte sich zu ihm, um ihn zu küssen.
Anne
A nne begann den Tag mit vielen guten Vorsätzen. Sie wachte um sechs Uhr dreißig auf, als das gedämpft einfallende Sonnenlicht zitronengelbe Schatten auf ihre weiße Bettdecke warf. Selbst durch die Stoffjalousien mit dem blassblauen Muster aus Schäferszenen war erkennbar, dass es ein klarer, warmer Tag werden würde, was sie mit einem vorsichtigen Gefühl von Hoffnung erfüllte.
Als Anne aufstand, merkte sie, dass sie unbewusst einen Arm über Charles’ Seite des Bettes ausgestreckt hatte. Das beunruhigte sie. Seit Wochen war sie beharrlich auf ihrer Seite der Matratze geblieben. Dieser kleine, aber nicht wieder ungeschehen zu machende Übergriff auf seine
Weitere Kostenlose Bücher