Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
Vom Netzwerk:
Domäne kam ihr irgendwie symbolhaft vor. Noch immer hatte sie keine Entscheidung getroffen, nicht auf die Unterredung mit Dr. Lewis reagiert.
    Sie verdrängte den Gedanken, während sie ihr Nachthemd auszog, und widmete sich im Geiste bereits den Dingen, die getan werden mussten: Sie wollte das Arbeitszimmer fertigstreichen, die Küchenschränke ausräumen, eine gesündere Diät beginnen, um etwas Gewicht zu verlieren, den Wagen zum TÜV bringen, mit Charlotte reden.
    Die letzte all dieser Pflichtübungen schwebte düster und drohend über allen anderen, verursachte ihr Unbehagen und, wenn auch widerwillig, Schuldgefühle, die sich auf ihre Seele legten wie flüssiges Wachs. Gelegentlich stellte sie fest, dass sie die Angelegenheit erfolgreich verdrängen konnte. So zum Beispiel beim Unkrautjäten im Garten, wenn sie auf einem schmalen grünen Kissen kniete, die Beete mit einer rostigen kleinen Schaufel umgrub und dabei vergaß, dass es eigentlich etwas geben sollte, das ihr die Laune verdarb. Was war das doch gleich gewesen? Ach ja: Sie musste bei ihrem einzigen Kind Wiedergutmachung dafür leisten, dass sie als Mutter versagt hatte.
    Als sie sich jedoch das Frühstück zubereitete – eine Scheibe Vollkorntoast mit fettreduzierter Butter – und die Rollen und Pinsel geholt hatte, um dem Arbeitszimmer einen zweiten Anstrich zu geben, überkam Anne eine untypische Antriebslosigkeit. Sie setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer, in ihren von Wandfarbe fleckigen alten Jeans und einem von Charles’ abgelegten Hemden mit ausgefranstem Kragen und einem irreparablen Loch unter der Achsel. Alles kam ihr sinnlos vor. Sie hatte das Gefühl, dass eine mehr oder minder starke Depression im Anzug war, eine bedrückende Trägheit überkam sie, gepaart mit Selbstmitleid. Es war wie der Beginn einer Migräne, die sich in beängstigender Deutlichkeit ankündigte.
    Bevor sie davon übermannt werden konnte, griff Anne schnell nach den Autoschlüsseln und fuhr zu einem nahegelegenen Bioladen, wo sie sich mit Lebensmitteln für ihre neue Gesundheitsdiät eindecken wollte. Aufgrund der erschlagenden selbstgefälligen Atmosphäre, die in dem Geschäft herrschte, hatte sie bisher nur selten dort eingekauft. Außerdem ertappte sie sich jedes Mal, wenn sie den Laden betrat, dabei, wie sie angesichts der unverschämt überteuerten Preise immer aggressiver wurde. Ein Blick auf die handschriftlich auf Schiefertafeln angepriesenen Sonderangebote von biologisch angebautem Quinoa oder Fruchtaufstrich von einem Biohof in Suffolk genügte.
    Dieses Mal war es nicht anders. Kaum war sie durch die Tür getreten, bot ihr ein Verkäufer in brauner Leinenschürze mit geradezu religiösem Eifer ein winziges Stück violetten Brokkoli an einem Cocktailspieß an.
    »Nein, danke«, lehnte Anne ab und verzog keine Miene. »Ich mag meinen Broccoli grün.«
    Der Verkäufer grinste gequält. Anne ging weiter den Gang zwischen den Regalen entlang. Den Einkaufskorb trug man hier nicht über dem Arm, sondern zog ihn wie einen Einkaufswagen hinter sich her. Sie hatte knackige Tomaten und Fetakäse für einen Salat zum Mittagessen im Sinn. Als sie sich jedoch dem Kühlregal mit dem Käse näherte, stand dort eine schwangere junge Frau mit einem Zwillingsbuggy, an der es kein Vorbeikommen gab. Die Schwangere trug eine lange, weite und teuer aussehende Strickjacke und mit Schaffell gefütterte Stiefel über den Jeans. Sie trug den typischen Ausdruck gestressten, selbstgefälligen Mutterglücks zur Schau. »Millie, lass das«, ermahnte sie träge eines der beiden blonden Kleinkinder im Buggy, das seinen dicken Finger in die Eisschicht an der Kante des unteren Regalfachs bohrte.
    Anne wartete geduldig darauf, dass die junge Mutter auf sie aufmerksam werden und ihr mit einer höflichen Entschuldigung Platz machen würde. Diese jedoch machte keine Anstalten, aus dem Weg zu gehen, dachte vielmehr minutenlang darüber nach, welchen Käse sie denn eigentlich kaufen wollte, strich sich geistesabwesend über ihren gewölbten Bauch und sprach nebenbei halbherzig auf ihre Kinder ein. Anne merkte, wie sie innerlich zu kochen begann.
    Als Charlotte klein war, hatte es das nicht gegeben, schoss es ihr durch den Kopf. Da bekamen die Leute Kinder, und damit basta. Es war das Normalste der Welt. Niemand kümmerte sich um Beckenbodenübungen, Yoga-Atmung oder Wassergeburten. Niemand erwartete eine Sonderbehandlung oder schenkte Kindern übertrieben große Aufmerksamkeit. Es gab weder

Weitere Kostenlose Bücher