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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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legte. »Was würdest du heute deinen Eltern sagen, was du damals nicht sagen konntest?«
    Charlotte merkte überrascht, dass sie die Antwort bereits kannte. »Ich würde meine Mutter fragen, warum sie mich nicht genug geliebt hat, um mich zu beschützen.«
    Charlotte drehte das Taschentuch zwischen den Fingern, bis sie es zu einer dünnen weißen Schnur aufgezwirbelt hatte, die sie durch die Finger einer Hand winden konnte. Sie dachte an das Geständnis, das sie gerade gemacht hatte, und wusste, dass es die einzige wahre und ehrliche Aussage war, zu der sie sich gegenüber Roberta Mill je durchgerungen hatte. Doch die Aufrichtigkeit dieser Worte verschaffte ihr nicht einmal halbwegs die erwartete Erleichterung, sondern machte ihr nur Angst, panische Angst.
    Später sollte Charlotte sich fragen, ob sie so sehr diese Art von Geheimniskrämerei gewohnt war, dass sie Teil ihrer Persönlichkeit geworden war. Hatte sie Angst, nicht länger sie selbst zu sein, wenn sie zu viel von sich preisgab? Oder ehrlicher ausgedrückt, fürchtete sie, keine Ausrede mehr zu haben? Dass sie ohne die düsteren geheimen Abgründe in ihrer Seele eigentlich eine uninteressante Persönlichkeit sei? Genoss ein Teil von ihr die Pose der Misshandelten, die vagen Andeutungen, die Geheimniskrämerei, den ach so künstlerischen Hang zur Depression? Hatte sie die Dinge schlimmer gemacht, als sie waren, weil sie etwas brauchte, das sie für die Seiten an ihr verantwortlich machen konnte, die sie nicht mochte?
    Was, wenn sie das Geheimnis lüftete und Roberta Mill es für banal oder prosaisch hielt, keinen triftigen Grund für eine Therapie? Was, wenn sie Charlotte auslachte? Irgendwie war es ihr wichtiger, von Roberta Mill gemocht zu werden, als sich ihr zu offenbaren, wie sie wirklich war. Denn es konnte sein, dass die echte Charlotte ihren Erwartungen nicht genügte.
    »Charlotte?«, sagte Roberta Mill mit sanftem Drängen in der Stimme. »Warum, glaubst du, würdest du deiner Mutter diese Frage stellen?«
    Charlotte sah sie ausdruckslos an. »Keine Ahnung«, antwortete sie. Und obwohl das eine Lüge war, fühlte sie sich damit auf der sicheren Seite, denn wenn sie das, was man ihr angetan hatte, nicht unter Kontrolle hatte, wollte sie zumindest darüber bestimmen, wie viel sie von sich preisgab. Und das, verschaffte ihr, mehr als alles andere, ein gewisses Gefühl der Macht.

Charlotte
    A nne war nicht ins Krankenhaus gekommen. Als die Schwester in das Zimmer zurückkehrte, in das man Charlotte gebracht hatte, damit sie sich beruhigte, erkannte sie sofort an deren verblüffter, halb verlegener Miene, dass Anne sie nicht abholen würde. Die Schwester wiederholte zögernd das Telefongespräch mit ihrer Mutter. Es war ihr dabei deutlich anzumerken, wie unangenehm ihr die Angelegenheit war, sie nicht wusste, wie sie mit der ungewöhnlichen Situation umgehen sollte, in die sie unfreiwillig geraten war. Charlotte tat die Krankenschwester leid. Sie nickte nur kurz, trank einen letzten Schluck Tee aus dem Becher, den man ihr gebracht hatte. Der Henkel war abgesplittert. Auf dem Becher stand in kühner bunter Schrift: »Der beste Boss der Welt«.
    Die Schwester sagte jetzt etwas, ihre Lippen bewegten sich, die Augenbrauen zuckten besorgt, doch Charlotte konnte sie nicht hören. Sie lächelte und hoffte, einigermaßen vernünftig zu wirken, nahm Handtasche und Mantel und stand auf.
    »Danke für Ihre Mühe«, sagte sie. Die Schwester sah sie verblüfft an. Offenbar hatte sie sie mitten im Satz unterbrochen.
    »Keine Ursache.« Sie zögerte. »Der Schaden ist ja nicht groß. Aber wenn … falls Sie je mit jemandem darüber reden möchten …« Die Schwester sprach den Satz nicht zu Ende. Charlotte nickte erneut so freundlich wie möglich und ging hinaus in die wattige, graue Abendstimmung.
    Draußen dachte sie zuerst nicht mehr an ihren Wagen, lief zur Straße in Richtung U-Bahn. Ihre Hand schmerzte, schien irgendwie lädiert. Sie konnte sich das dumpfe, brennende Gefühl nicht erklären, bis ihr einfiel, was geschehen war: Sie hatte ihren Vater geschlagen. Sie hatte all die Jahre au f ihre Rache gewartet, und das war alles, wozu sie fähig gewesen war. Auf ihn einzuschlagen, ihn anzuschreien, während er halb tot in einem Krankenhausbett lag. Ihr war zum Lachen zumute, aber das Lachen blieb ihr in der Kehle stecken. Sie hatte sich nur lächerlich gemacht.
    Sie ging in einen Zeitungsladen. Eine altmodische Klingel schlug an, als sie die Tür

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