Scherbenmond
Verharren drehte Gianna sich ruckartig zu mir um und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Ja, das Zimmer wirkte alles andere als heimelig. Es war ein Schreckenskabinett. Jetzt entdeckte Gianna auch die Kamera, die immer noch auf dem Regalbrett stand. Sie schob sie zur Seite und blickte testweise durch das Loch. Gleichzeitig fiel mir ein, dass wir das Schlangenauge nicht wieder aufgeklebt hatten. Was für ein Glück, dass es Paul nicht aufgefallen war. Gianna stutzte, als sie den Frosch wahrnahm, der sie aus seinem Alkoholbad anglotzte, und wich angewidert zurück.
»Ihr filmt das Bett deines Bruders?«
Tillmann positionierte sich wie ein Wächter vor der Tür. Giannas Blicke flogen zwischen ihm, mir und der Kamera hin und her. Wir sagten nichts.
»Boah, ihr seid echt pervers! Ihr habt ihn gefilmt und wollt es mir jetzt zeigen, oder? Paul und François im Bett?«
»Nein, nicht ihn und François, sondern ...«, setzte ich an, sie zu besänftigen, doch ich wusste nicht, wie ich meinen Satz sinnvoll zu Ende führen sollte. Gianna wandte sich ab und steuerte die Tür an. Bevor Tillmann handgreiflich werden konnte, fasste ich nach ihrem Jackenärmel, um sie aufzuhalten. Ihre linke Hand schnellte nach oben, dann zischte es und noch in der gleichen Sekunde kam der Schmerz - grell und beißend und so intensiv, dass ich aufschrie und die Finger auf meine Augen drückte. Es fühlte sich an, als bohrten sich tausend scharfe Splitter in meine Pupillen. Die Tränen schossen in Strömen über meine Wangen und meine Kontaktlinsen schienen sich in der Hornhaut festzufressen.
»Bist du total bescheuert?«, jaulte ich erbost. »Ich hab zufällig Kontaktlinsen! Das tut so weh! Ich glaub, ich bin blind!«
Ich sah tatsächlich nichts mehr, was aber in erster Linie daran lag, dass ich meine Augen nicht mehr zu öffnen wagte. Ich ließ mich fallen, weil mir schwindelig wurde.
»Ihr seid total krank! Absolut krank! Psychos! Lasst mich raus!«, plärrte Gianna. »Aua! Finger weg, du mieser, kleiner Wichser!«
Der miese, kleine Wichser sagte kein Wort, doch an Giannas verbissenem Keuchen hörte ich, dass die beiden immer noch miteinander rangelten. Dann stöhnte Tillmann dumpf auf und ging neben mir zu Boden. Giannas Absätze hackten über die Dielen. Sie floh in den Korridor, um völlig außer sich an dem Knauf der Wohnungstür zu rütteln.
»Hilfe!«, rief sie schrill. »Hallo, hört mich denn niemand? Hilfe!«
»Oh Mann, meine Eier ...« Tillmann stieß gequält die Luft aus.
»Wasser!«, übertönte ich das schmerzerfüllte Duett aus Giannas Geschrei und Tillmanns Stöhnen. »Ich sehe nichts mehr! Ich kann meine Augen nicht öffnen! Bitte!«
Über mir knackte das Plastik einer PET-Flasche. Dann traf kühles Wasser auf meine Lider und ich wagte, sie flattern zu lassen, während Gianna mit beiden Fäusten die Haustür malträtierte. Tillmann spülte mir die Augen aus, bis das Brennen und Stechen milder wurde. Mühsam richtete ich mich auf. Der Rotz lief aus meiner Nase und ich schlotterte am ganzen Körper.
»Muss Linsen rausmachen«, schluchzte ich, beugte mich vor und entfernte sie mit geübtem Griff. Schon besser. Ich verfrachtete sie in ihren Behälter und kramte unter Tränen meine Notbrille aus meinem Rucksack.
»Very sexy«, kommentierte Tillmann, nachdem ich sie mir auf die Nase geschoben hatte. Ich sah ihn nur verschwommen. Er reckte den Daumen hoch. »Willkommen in der Geisterbahn.« Gianna versuchte inzwischen, das Türschloss mithilfe einer ihrer Haarklammern zu öffnen.
»Wenn ihr mich nicht sofort hier rauslasst, ruf ich die Polizei! Ich hetz die Bullen auf euch, ich schwöre es! Das ist Freiheitsberaubung!« Tja. Mit diesem Einwand hatte ich gerechnet. Gianna fischte das Handy aus ihrer Tasche und fuchtelte drohend damit herum.
»Gianna, beruhig dich«, bat ich sie beschwörend, sobald ich wieder sprechen konnte, ohne mich an meinen Tränen zu verschlucken. Auch meine Sehkraft kehrte zurück. »Und bitte kein Pfefferspray mehr. Wir wollten dir nur etwas zeigen. Und es sind ganz bestimmt keine Sexszenen von meinem Bruder und François.« Hoffentlich nicht, dachte ich.
Doch Gianna war kaum ansprechbar. Wahllos drückte sie auf ihrem Handy herum. Ich wankte auf sie zu und wollte es ihr aus der Hand nehmen, aber da ich immer noch nicht richtig sehen konnte, fasste ich zweimal daneben (einmal davon dummerweise an ihren ohnehin winzigen Busen), bevor ich es endlich erwischte. Sie versuchte nicht, es mir zu
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