Scherbenmond
mich zu nerven. Himmel, wo sollte ich nur anfangen? Ich war ihr ja nun einige Erklärungen schuldig. Am besten stieg ich mit Paul ein. »Paul denkt zwar, dass ich eine Persönlichkeitsstörung habe. Aber eigentlich ist er derjenige, der krank ist. Sehr krank sogar. Es ist ernst.«
Gianna schlug die Hände vors Gesicht und begann so bitterlich zu schluchzen, dass ich mich neben sie auf Tillmanns Pritsche kniete und unbeholfen ihren Rücken streichelte.
»Ich bin so blöd. So saublöd. Zehn Minuten, und meine ganze Welt ist verändert. Und jetzt?« Sie schnäuzte sich lautstark, hörte aber nicht auf zu heulen. »Wieder kein normaler Mann. Wann treffe ich endlich einen normalen Mann?«
»Meine Beziehung ist auch etwas ... kompliziert«, sagte ich tröstend.
»Das sind sie immer!« Gianna zog dramatisch die Nase hoch. »Immer! Ich bin jetzt achtundzwanzig und ich habe ...«
»Achtundzwanzig!?«
»Ja. Was dachtest du denn? Jedenfalls galoppiere ich auf die dreißig zu und habe die schönsten Jahre meines Lebens an zwei Volldeppen verschleudert. Der eine versuchte ständig, seinen zu kleinen Schwanz zu kompensieren, der andere mutierte zum Stalker, als ich ihn verlassen wollte, und jetzt, wo ich es endlich geschafft habe und unabhängig bin, treffe ich deinen Bruder ... und ... wieder kompliziert! Ich kenne ihn erst eine knappe Stunde! Und alles ist kompliziert!« Gianna ließ sich nach hinten kippen, sodass ihr Kopf unsanft gegen die Wand knallte. Es störte sie nicht.
»Na ja. Es könnte noch komplizierter sein. Wenigstens ist Paul ein Mensch. Mein Freund ist einer von ihnen.« Ich deutete auf die Leinwand. Gianna sah mich entsetzt an.
»Ist das euer Familienhobby, oder was? Beziehungen mit ...?« Sie malte hilflos Kreisel in die Luft.
»So ähnlich. Meine Mama ist mit einem Halbblut verheiratet. Aber keine Sorge, es ist nichts auf mich übergegangen. Papa wurde nach der Zeugung befallen. Ich bin stinknormal.«
Gianna lachte schrill auf.
»Du - du schläfst mit so einem?« Nun deutete auch sie auf die Leinwand und ich schaute automatisch hin, obwohl sie nur noch ein harmloses weißes Viereck war.
»Noch nicht«, erwiderte ich reserviert, doch meine Wangen wurden heiß. Genau. Noch nicht. Zumindest noch nicht jenseits meiner nächtlichen Träume. »Und, oh, er ist wesentlich attraktiver als François. Ein echtes Leckerchen.« Ich zog den Kopf ein, denn Colin hätte mir eine gewischt, wenn ich das in seiner Anwesenheit gesagt hätte.
»Also eine Art Edward Cullen?«, fragte Gianna und klatschte sich im gleichen Moment gegen die Stirn. »Was rede ich da eigentlich?
Eine Art Edward. Oh Gott, Edward ist eine Romanfigur, aber das hier, das ist... «
»Das ist die Wirklichkeit. Richtig. Ich kann’s manchmal auch kaum glauben. Jedenfalls ist Colin nicht niedlich. Nein, kein Edward. Er kann ein richtiger Stinkstiefel sein. Nicht wörtlich genommen! Er duftet köstlich. Und er saugt kein Blut. Hast du etwa gedacht, François ist ein Vampir?« Jetzt erst wurde mir die Tragweite unseres Filmexperiments bewusst. Gianna befand sich wahrscheinlich auf dem völlig falschen Dampfer. Und damit war sie nicht die Einzige heute Abend. Wann meldete sich Tillmann endlich?
»Es gibt keine Vampire, Gianna.« Ich musste grinsen, obwohl ich mich restlos verzweifelt fühlte. »François ist ein Nachtmahr, allerdings stimmt da einiges nicht mit ihm, ich kann ihn noch nicht einordnen.«
»Ein Nachtmahr.« Gianna kapierte rasch. »Deshalb hast du mich in der Kunsthalle nach dem Bild von Füssli gefragt.«
Ich senkte meinen Blick. »Ja, ich - es ist mir so rausgerutscht. Ich hatte ja keine Ahnung, was du darüber weißt und ob überhaupt ...«
»Ich weiß tatsächlich etwas darüber, Elisa. Zwei Semester Volkskunde. Aber ich dachte bisher - wie übrigens der Großteil der restlichen Menschheit -, es sei ein an den Haaren herbeigezogener Aberglaube ... «
»... der einem gehörig auf die Frisur schlagen kann, ja. Es ist kein Aberglaube. Und Tillmann und ich sind wahrscheinlich die ersten Menschen, die jemals einen Angriff aufgezeichnet haben. Augenblick - warum hast du mich Elisa genannt?« So nannte mich sonst nur mein Vater. Kannte sie ihn etwa doch?
»Homo Faber. Max Frisch. Nie gelesen? Elisabeth wird von ihrem Vater Sabeth genannt und von der Mutter Elisa. Sabeth ist auch schön. Aber du bist eine Elisa. Und nicht promiskuitiv genug, um versehentlich mit dem eigenen Vater ins Bett zu steigen. - Trotzdem, ich weiß, was du
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