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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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entziehen, sondern guckte mich an wie ein hypnotisiertes Kaninchen.
    »Ich hab gewusst, dass du nicht ganz dicht bist, Elisabeth. Schon in der Kunsthalle. Ich hab es gewusst! Warum bin ich nur hergekommen?« Sie presste sich die Hände auf die Schläfen, als habe sie Migräne.
    »Hey, jetzt schalte mal einen Gang runter«, warf Tillmann ein, der sich von seiner Intimquetschung erholt hatte, aber ziemlich blass um die Nase war. »Wir wollen dir nur einen kurzen Film zeigen. Drei Minuten. Wir wissen selbst nicht, was drauf ist. Ehrlich.«
    »Ihr wisst es selbst nicht? Und was soll das Ganze dann? Ist das so wie in einem dieser Horrorfilme? Ich muss mir etwas Schreckliches anschauen und dann werde ich abgeschlachtet? Sind hier noch andere Kameras?« Sie ließ ihre angstvoll aufgerissenen Augen über die Decke wandern. »Scheiße. Ich will wieder in mein altes Leben zurück, zu meinen langweiligen Terminen mit Tieren und Senioren!«
    »Aber das hier ist doch fast das Gleiche!« Ich klang wie eine Übermutter, die einem ihrer Zöglinge klarmachen will, dass Spinat fast so gut schmeckt wie Gummibärchen. Tillmann hob erstaunt seine Brauen.
    »Na ja«, verteidigte ich mich. »Alt sind sie allemal und Tiere haben sie auch meistens im Gepäck.«
    Gianna hörte auf, zu schimpfen und zu heulen.
    »Wer sind >sie    Tillmann wies einladend auf die Tür zu unserem Zimmer.
    »Finde es heraus.«
    »Paul würde es tun«, ermunterte ich sie sanft, und obwohl das eine dreiste Lüge war, erzielte das Wörtchen »Paul« eine Bombenwirkung. Gianna schniefte noch einmal, dann nahm sie die Hände vom Gesicht und hob das Pfefferspray vom Boden auf.
    »Ich sehe es mir an. Aber wenn mir einer von euch zu nahe kommt, verätze ich euch die Schleimhäute. Und zwar überall.«
    Mit gerecktem Arm, den Zeigefinger fest auf dem Spraykopf, schritt sie zurück ins Zimmer. Ich atmete tief durch und folgte ihr. Als Tillmann die Filmkassette einlegte und den Projektor zum Laufen brachte, schlug der bohrende Hunger in meinem Magen in Übelkeit um. Was immer Tillmann und ich jetzt sehen würden: Es würde unser Leben verändern. Und wir hatten uns beide noch nicht von Tessa erholt. Ich selbst hatte mich nicht einmal von Colin
    erholt. Aber es würde auch Giannas Leben verändern. Pauls Leben veränderte es sowieso schon lange, und wenn wir nichts dagegen unternahmen, würde es vielleicht sogar sein Ende bedeuten. Es gab kein Zurück. Wir mussten es uns ansehen.
    »Film läuft«, vermeldete Tillmann. Ich biss mir auf die Fingerknöchel. Gianna, die dicht neben mir stand, hielt die Luft an, als Paul flackernd auf der Leinwand erschien, das Plumeau zurückgeschlagen, der Oberkörper frei.
    Super 8 war ein Stummfilmformat in Schwarz-Weiß. Ich war davon ausgegangen, dass der fehlende Ton die Aufnahmen erträglicher machte. Doch das Gegenteil war der Fall. Die Stille wirkte unnatürlich und erdrückend und das stetige Knistern und Knacken der Filmrollen schien sie zusätzlich zu verstärken. Wir hatten auf den genialen Weitwinkel der modernen Kamera verzichten müssen. Weder das Fenster noch die Zimmerdecke waren zu sehen. War er vielleicht schon da? Tillmann hatte gesagt, er habe die Schwimmzüge gehört, bevor er das Kokain genommen hatte.
    »Großer Gott...«, flüsterte Gianna. »Was passiert da?«
    Ratten ergossen sich auf Pauls Kopfkissen, wuselten über seine Haare und die Bettdecke, schoben sich in seine Achselhöhlen und krochen über seinen Mund. Dann verdunkelte ein jäher Schatten sein Gesicht. Sein Oberkörper wölbte sich krampfhaft.
    »Es kommt von oben«, raunte Tillmann.
    Ja, natürlich, von wo denn sonst, dachte ich, doch ich konnte nicht mehr sprechen. Gianna griff nach meiner Hand und quetschte sie so fest, dass meine Gelenke knackten. Ihre Finger waren eiskalt.
    Unsere Augen hingen an der Leinwand, als entscheide sie über unser Leben. Nun senkten sich die Schöße eines langen Mantels über Paul und an seinem nassen, tropfenden Stoff seilten sich weitere Ratten ab. Wieder bäumte sich Paul wie in einem Krampfanfall auf. Sein Mund stand weit offen. Er rang nach Luft.
    Wir schreckten zu dritt zurück, als sich in gespenstischer Langsamkeit ein Gesicht vor die Kamera schob - verkehrt herum, weil der Mahr mit den Füßen an der Zimmerdecke haftete, aber gut sichtbar im fahlen Licht des Mondes. Viel zu gut sichtbar. Die blondierten Spitzen seines Haars hingen schlaff nach unten, die aufgedunsenen Wangen und seine schweren

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