Scherbenmond
Tränensäcke schoben sich in Wülsten übereinander wie das verquollene Gewebe einer Wasserleiche. Trüb und unsagbar gierig starrten seine Augen in die Linse, bevor er sich in einer unmenschlichen Verrenkung auf Pauls nackte Brust fallen ließ, um sich mit seinen spinnenartigen Armen und Beinen an ihm festzuklammern und ihn inmitten seiner Rattenbrut auszusaugen.
Der Projektor verkündete ratternd, dass der Film zu Ende war, und das Bild erlosch. Gianna wimmerte kläglich auf.
»Das glaube ich nicht«, wisperte ich. »Das kann nicht sein. Ich glaube das einfach nicht ...« Und obwohl es so unlogisch und absurd schien und unendlich viele Fragen nach sich zog, fügte sich in mir auf einmal alles zusammen. Ich, die für verrückt und schwulen-feindlich erklärt worden war, hatte es von Anfang an geahnt. Mein Instinkt hatte mich nicht getäuscht. Ich fühlte endlich wieder die Erde unter meinen Füßen.
»Was war das?« Gianna packte meine Schultern und schüttelte mich. »Was war das, Elisabeth?«
Stück für Stück fanden meine Gedanken zueinander und meine Schlussfolgerungen lösten blankes Entsetzen in mir aus. Wir mussten handeln. Ich riss mich von Gianna los und drehte mich zu Tillmann um, der immer noch entgeistert auf die Leinwand schaute.
Er musste ihn aufhalten. Ich würde es nie aus eigener Kraft schaffen, den Pier zu finden, an dem das Schiff lag. Und zu zweit konnten wir auch nicht fahren. Gianna durfte uns jetzt nicht abhauen. Nicht mit dem Wissen, das sie besaß.
»Halte ihn auf! Hol ihn zurück! Tillmann, du musst Paul vom Schiff holen, er ist ihm dort ausgeliefert!« Tillmann reagierte sofort. Blitzschnell zog er sich seine Jacke über und fegte den Volvoschlüssel vom Regal.
»Nimm dein Handy mit! Und beeil dich!«, brüllte ich ihm hinterher, doch er war schon aus der Wohnung gerannt.
Ich schaute auf meine Uhr und schrie leise auf. Es war zwanzig vor acht. Wenn Tillmann das Schiff nicht mehr erreichte, stach Paul in See. Zusammen mit seinem Mahr und Geliebten.
François.
Mädelsabend
»Aber das kann doch nicht sein«, murmelte ich immer wieder vor mich hin und knetete meine Stirn. Eine Verwechslung war ausgeschlossen. François war der Mahr. Ich musste den Film nicht ein zweites Mal ansehen, um es zu überprüfen. Ich wusste es. Und trotzdem - es gab so vieles, was nicht dazu passte. Einen Berg an Ungereimtheiten. Die größte davon war, dass er sich Paul von Anfang an gezeigt hatte. Nun, was hieß gezeigt - die beiden waren ein Paar.
Ich saß mit angezogenen Beinen auf meinem Bett, Gianna mir gegenüber im Schneidersitz auf Tillmanns Pritsche. Sie hatte ihre Bernsteinaugen fest auf mich geheftet. Keine meiner halblauten Grübeleien entging ihr und doch war ihr Gesicht ein einziges Fragezeichen. Ich ignorierte sie. Ich musste nachdenken. Warum meldete Tillmann sich nicht? Handy und Festnetztelefon lagen neben mir auf der Matratze, doch sie schwiegen beharrlich.
Was war François? Etwa ein Halbblut? Das war immerhin eine Möglichkeit. Ein Halbblut, das sich einem weniger ehrenwerten Dasein verschrieben hatte als mein Vater. Das seinen Hunger skrupellos stillte. Aber er kam mir abartiger und gefährlicher vor, als Papa mir jemals erschienen war. Ja, es hatte vergangenen Sommer einige Momente gegeben, in denen mir mein eigener Vater nicht mehr geheuer gewesen war. Doch das Grauen der Filmaufnahme machte beinahe Tessa Konkurrenz. Trotzdem war François in allem, was er tat, viel zu menschlich.
Da wir nichts Genaues wussten, mussten wir also vorerst vom Schlimmsten ausgehen. Und das Schlimmste bedeutete ...
»Scheiße«, flüsterte ich, grapschte nach meinem Handy und wählte Tillmanns Nummer. Die Mailbox sprang an. »Hör mir gut zu, Tillmann: Sprich Paul nicht darauf an. Auf keinen Fall! Versuch nur, ihn vom Schiff zu locken. Sag ihm, dass ich einen schlimmen Anfall hatte oder so.«
Ich spürte, wie Giannas Augen sich in mir festbohrten. Beinahe tat sie mir leid, doch ich sprach unbeirrt weiter. Ich konnte mich jetzt nicht um sie kümmern. Noch nicht.
»Wir müssen alles vermeiden, was François misstrauisch stimmen könnte. Denk am besten gar nicht erst an ihn. Du weißt doch, die telepathischen Fähigkeiten. Am Ende bringen wir Paul erst recht in Gefahr damit. Und bitte, bitte ruf mich an! Ich warte schon die ganze Zeit. Bitte.« Seufzend legte ich auf und schleuderte das Handy an das Fußende meines Bettes.
»Ich bin nicht krank«, sagte ich leicht gereizt, denn Giannas Blick begann
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