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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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obwohl ich den Zahnarzttermin dankend vorgezogen hätte. Denn er war berechenbar. Die Panik nahte bereits; ich spürte sie kommen.
    Sie baute sich auf wie eine Welle, erst harmlos und in weiter Ferne, dann aber ...
    »Können sie einem eigentlich auch schlechte Träume rauben?«, vertrieb Gianna mein Angstgespenst. »Träume, die einen belasten? Ich hätte da ein paar abzugeben.«
    Es fiel mir schwer, vernünftig zu reagieren und Gianna nicht anzuschreien. Denn wir näherten uns genau dem Thema, vor dem ich seit Wochen weglaufen wollte.
    »Ja, könnten sie, wenn sie den Menschen Gutes tun wollten. Aber wer verdirbt sich schon freiwillig den Magen?«, antwortete ich widerstrebend. »Colin hat es mir angeboten und mir gleichzeitig davon abgeraten. Manche Träume brauchen wir, obwohl sie schlecht sind, und außerdem ... Es ist gefährlich.«
    Giannas Falkenaugen verhakten sich hartnäckig in meinen. Oje. Sie hatte mal wieder angebissen.
    »Du denkst das nicht nur. Du hast es erlebt, oder?« So ganz verkehrt war sie in ihrem Job also doch nicht.
    »Er wollte sie mir nicht rauben, er wollte es überhaupt nicht tun!«, rief ich hitzig, getrieben von dem tiefen Bedürfnis, Colin zu verteidigen. »Ich hatte ihn gebeten, mir eine schöne Erinnerung zu rauben, weil er hungrig war, und dabei... ist etwas schiefgegangen.«
    Gianna umklammerte mit ihren zierlichen Fingern fest die Kaffeetasse. »Was genau?«
    »Ich - ach, ich bin in seine Erinnerungen gerutscht. In ... in - er war in einem KZ. Sie wollten ihn vergasen. Aber er starb nicht. Ich war in seinem Körper, mitten in dem Leichenhaufen, dann haben sie mich wieder rausgeholt, ich stand in der Gaskammer, alle um mich herum starben, nur ich nicht ...«
    Ich musste aufhören, da sonst die Gefahr bestand, dass ich auf den Tisch kotzte. Gianna ließ ihre Tasse fallen. Sie zerbrach sofort. Wieder eine Versace-Scheußlichkeit weniger.
    »Oh Gott, Elisa ...« Sie machte keine Anstalten, mich in den Arm zu nehmen oder den Kaffee wegzuwischen. Sie war völlig versteinert. Ich sah unbeteiligt dabei zu, wie die schwarze Brühe auf den Boden tropfte, und drückte meinen Handballen fest auf die scharfkantigen Scherben, die den gesamten Tisch übersäten. Der Schmerz tat gut.
    »Die NS-Zeit und die Rassenverfolgung - das war mein Schwerpunkt im Geschichtsstudium. Vor der Zwischenprüfung hab ich mich Tag und Nacht mit nichts anderem beschäftigt, bis ich nachts davon träumte. Dann hab ich eine Eins bekommen und mich nicht eine Sekunde darüber gefreut.«
    »Ich weiß, dass ich es nicht erlebt habe, dass ich es nur gefühlt habe, aber ... es ist in meinem Kopf, nein, es ist überall. Es gehört jetzt zu mir und ich ...« Wieder musste ich eine Pause einlegen.
    »Du weißt nicht, wie du es aushalten sollst.«
    »Wie ich es aushalten soll, wenn ich ihn wiedersehe und dadurch alles zurückkommt, ja. All die Bilder, Gerüche und Geräusche. Und es tut mir doch so leid für ihn. Er tut mir so leid! Sie haben Experimente mit ihm gemacht, ihn gequält und gefoltert ... und das alles nur, weil er anders ist!«
    »Wie wir«, sagte Gianna ernst. »Wir sind auch anders.«
    »Ja«, erwiderte ich schlicht.
    Gianna schnaubte kurz. »Ich hab mir oft überlegt, was mir wohl in dieser Zeit passiert wäre. Ich glaube, mich hätte es auch erwischt. Ich hätte meine Klappe nicht halten können. Aber selbst wenn doch - sie hätten einen Grund gefunden. Und dich ...« Ein zartes Schmunzeln erhellte ihr Gesicht. »Dich hätten sie längst vorher mit Begeisterung als Hexe verbrannt. Du kannst einen total irre angucken, weißt du das?«
    Ich schwieg. Was sollte ich dazu schon sagen? Irre. Das war mein Stempel, seitdem ich nach Hamburg gekommen war. Doch aus
    Giannas Mund hatte sich das »total irre« sogar eine Spur bewundernd angehört.
    »Hast du mit irgendjemandem darüber gesprochen?« Gianna löste sich aus ihrer Erstarrung, nahm ein Küchenhandtuch vom Haken und begann, den Kaffee aufzuwischen.
    »Nein, mit niemandem.« Weil ich es nicht gekonnt hatte. Nur mit ihm.
    »Kein Wunder, dass du in der Kunsthalle beinahe umgekippt bist.« Gianna schnalzte mit der Zunge. »Man mag den Friedrich ja für einen Romantiker halten, aber dieses Bild ist bedrohlich. Hast du mal Kafka gelesen?«
    »Nein«, gestand ich seufzend. Gianna war offenbar unser neues wandelndes Lexikon der schönen Künste.
    »Ha! Ihr jagt Mahre und kennt Kafka nicht? Das ist der literarische Traumexperte schlechthin! In einem seiner Werke

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